Samstag, 7. Mai 2016

11. Magical Child.

oder
Der erste Künstler des einundzwanzigsten Jahrhunderts
Je begreiflicher uns das Universum wird,
umso sinnloser erscheint es auch.
Steven Weinberg [Nobelpreis 1979]
Der Endzweck der Künste hingegen ist Vergnügen, und das
 Vergnügen ist entbehrlich.
Lessing
Nicht Frevelmut, sondern der immer neu
 erwachende Spieltrieb ruft andere Welten ins Leben.
 Nietzsche

Nie zuvor haben Kunst überhaupt und namentlich die Musik im Dasein der Menschen soviel Raum eingenommen wie heute. Sie hören auf, eine besondere gesellschaftliche „Institution“ neben soundsoviel anderen zu bilden, und neigen dazu, sich im Alltagsleben zu zerstreuen - wenn auch als dessen Juckpulver.

Das läßt sich sogar messen - an dem verläßlichsten Maßstab, den die bürgerliche Gesellschaft erfunden hat; am Geld. Die Unterhaltungsindustrie und all die Branchen, die ihr zuarbeiten, sind längst im Begriff, der Automobilindustrie den Rang abzulaufen. So richtig „notwendig“ ist die durchgängige Motorisierung der westlichen Welt übrigens auch schon nicht mehr gewesen: Der Wunsch nach Mobilität ist eher ein mentales Bedürfnis. Wir leben offenbar schon nicht mehr in einer Welt, wo der Kampf ums nackte Dasein das allbeherrschende Lebensthema ist. Nicht die Notdurft, sondern das Überflüssige wird zur Triebkraft der Entwicklung. Das trifft wohlbemerkt nicht nur auf die reichen Länder der Erde zu: Die Niedriglohnländer Asiens entwickeln sich heute mittels der Unterhaltungselektronik, und nicht mehr dank billiger Textilien.

Wie immer man die Erzeugnisse der Vergnügungsindustrie geschmacklich beurteilt: Daß es sie gibt, bezeichnet eine zuvor unerreichte Höhe der Kultur. Der wahre Reichtum sei „der Reichtum an Bedürfnissen“, schrieb der Nationalökonom Karl Marx.

So gesehen, war der bedeutendste Künstler des zwanzigsten Jahrhunderts - Charly Chaplin. Nicht: der ‚größte‘ Künstler. Das wäre ein Geschmacksurteil, und ließe sich nicht objektivieren. Die Auswirkungen von Richard Wagners Musik dauern bis heute. Man muß ihn ja nicht mägen; doch der einflußreichste Künstler des neunzehnten Jahrhunderts war er. Durch seine Wirkung ist Charly Chaplin der bedeutendste Künstler unseres Jahrhunderts. Durch ihn ist das Kino zur großen Industrie geworden. Durch ihn ist das Filmemachen aber auch zur Kunst geworden. (Erinnern wir uns übrigens der Rolle, die Kinder dabei gespielt haben.) Wenn Kunst, wenn Musik heute alle erreicht, unabhängig von ihrer sozialen Stellung, dann verdanken wir das den Performing Arts. Die sind ein Kind der Unterhaltungsindustrie. Und die verdanken wir wiederum dem Kino.

Michael Jackson ist der erste Künstler des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Die Figur des Jacko steht an der Schwelle zum neuen Jahrtausend. Es ist zugleich der Übergang auf eine neue Stufe der Zivilisation. Leitartikler und Feuilletonisten haben vom „Ende der Arbeitsgesellschaft“ gesprochen, und das Wort macht seither die Runde. Aber was es eigentlich bedeutet, wurde noch wenig bedacht.

Arbeit unterscheidet sich von anderen menschlichen Tätigkeiten darin, daß ihr Ausgang vorhergesehen ist. Fleißig ist auch die Biene. Was aber den schlechtesten menschlichen Baumeister vor der besten Biene auszeichnet: Er hat sein Haus schon in seinem Kopf errichtet, bevor er es mit den Händen baut. Den Zweck seiner Arbeit hat er vorausgesetzt: als „Bedürfnis“. Und was es werden soll, bestimmt darüber, wie er es machen muß - nämlich zweckmäßig.

Planvolle Tätigkeit zwecks Bedürfnisbefriedigung, das ist die beherrschende Lebenspraxis in einer Welt, wo das Dasein vom Mangel geprägt ist. Wo das ganze Leben von der Sorge, von der Vorsorge für den kommenden Tag eingestimmt wird. - Aber ist das nicht die condition humaine, die Grundbefind-lichkeit unserer Existenz?

Keineswegs. Gute zwei Millionen Jahre lang haben unsere steinzeitlichen Vorfahren in einem ökologischen Gleichgewicht mit ihrer Umwelt zugebracht. Sie waren Jäger und Sammler, die Anzahl der Menschen war begrenzt durch das vorhandene Angebot an Lebensmitteln. War ein Landstrich abgeweidet, zog man weiter - aus einer Nische in die andere. Manchmal geschah eine Katastrophe, bei der eine ganze Population zugrunde gehen mochte. Aber die war unvorhersehbar, man konnte nicht vorsorgen. Wie denn auch? Viel Vorrat konnten sie auf ihren Wanderungen nicht tragen - und wie sollten sie ihn haltbar machen? Gelegentliche Überschüsse mußten vergeudet werden - im Fest. Der Überfluß war ebenso unvorhersehbar wie die Not. Denn beide waren Ausnahmen, die die Regel bestätigen: das ökologische Gleichgewicht. Unsere Vorfahren lebten nicht stets am Rande des Untergangs. Sonst hätten sie sich nicht von Ostafrika aus über die ganze Welt verbreiten können. Und schon gar nicht hätten sie die Muße gehabt, uns jene prachtvollen Zeugnisse ihres künstlerischen Genies zu hinterlassen, die wir in den Höhlen von Lascaux und Altamira bewundern.   

Bleiben oder wandern, das war die einzige Alternative. Mehr gab es nicht vorzusehen. Mit dem Übergang zum Getreidebau und der Seßhaftigkeit änderte sich das. Das war die sogenannte „neolithische Revolution“, sie begann vor etwa zwölftausend Jahren bei Jericho im Tal des Jordan. Von nun an gab es einen regelmäßigen Überschuß - auf den man und mit dem man rechnen konnte. Nun konnte man vorsorgen.

Paradoxerweise wurde damit der Mangel zum Leitmotiv des gesellschaftlichen Daseins. Denn jener Überschuß, das Korn, ließ sich anhäufen - als Vorrat für schlechte Jahre, aber auch als Tauschmittel für Güter, die man nicht selber herstellen konnte, und auf die man vorher verzichten mußte. Es entsteht ein Reichtum, der akkumulierbar ist. Mit der Entwicklung der neuen Bedürfnisse entsteht auch der Streit darüber, was „notwendig“ ist und was „Luxus“. Der Reichtum der einen schafft die Armut der andern. Es entsteht eine „überschüssige“ Bevölkerung, das Massenelend und - der Klassenkampf.

Doch was gestern noch Luxus war, ist heute schon notwendig - und auf einmal gibt's nie genug! Mangel wird zum beherrschenden Daseinserlebnis. Und Arbeit ist das universelle Mittel, ihn zu beheben. Was eine Sache wert ist, mißt sich daran, wieviel Arbeit nötig ist, um sie zu beschaffen. An diesem Maßstab kann alles miteinander verglichen und folglich - gegeneinander getauscht werden. Es entsteht die Marktwirtschaft, als die entfaltete Form der Arbeitsgesellschaft; und die industrielle Revolution in ihrer Folge. Arbeit heißt seither vor allem: Lohnarbeit, und sie ist ein furchtbares Joch. Ökonomie heißt Ersparung von Arbeit, und Freiheit heißt Freizeit. Das Ideal der Menschen, aber auch die reale Tendenz der Technik ist eine Produktionsweise, wo die Arbeit der Menschen von Maschinen übernommen wird. Wo also der Mensch nur noch das Was angibt und das Wie den Automaten überläßt. Die Vollendung der Arbeitsgesellschaft wäre dann freilich auch ihr Ende. 

Die Arbeit hat unser Bild von der Wirklichkeit von Grund auf neu geprägt. Sie hat die „Normalbiographie“ erfunden. Ihretwegen wollen wir die Welt vorhersehbar machen. Denn nur wer glaubt, durch Arbeit Vorsorge treffen zu können, muß auch vorhersehen wollen. Die positiven Wissenschaften, denen die Idee von der Machbarkeit der Welt zugrundeliegt, sind Kinder der Arbeit. Und umgekehrt: Was keinem ersichtlichen Zweck dient, ist auch nicht ganz „wirklich“.

Die Arbeit hat alle menschlichen Verhältnisse überwuchert. Zum Beispiel die Stellung der Generationen zueinander. Daß Knaben keine Männer, und daß Mädchen keine Frauen sind - das hat man wohl immer gewußt. Aber auf die Idee, die ganze Menschheit in zwei geschlechtslose Lager, in ‚Kinder‘ und ‚Erwachsene‘ zu scheiden - darauf kam erst die bürgerliche Gesellschaft. (Vorher gab es dafür nicht einmal das passende Wort: Kinder waren Söhne und Töchter, egal wie alt.) Ein vollgültiger Bürger ist nämlich erst der „Arbeiter“: einer, der „Werte schafft“, der planvolle Tätigkeit zwecks Bedürfnisbefriedigung verrichtet; Kinder also nicht. Zunächst wurde nur der Nachwuchs der herrschenden Klassen zu ‚Kindern‘ gemacht; der Nachwuchs der Armen durfte ruhig arbeiten. Aber mit fortschreitender Industrialisierung wurde die Arbeit nicht nur schwer, sondern auch kompliziert. Es bedurfte einer langen Vorbereitung. Seither ist jeder, der „noch zu klein“ ist, ein Kind.

Das ist ein minderer Status, ein Mangelzustand. Aber er hat auch sein Privileg: Das Kind darf das, was sich der Erwachsene versagen muß; es darf spielen. Spiel ist eine Tätigkeit, deren Ausgang offen ist. Bei der man erst sieht, was es werden sollte, wenn es schon etwas geworden ist. Das Kind darf noch in einer unvorhersehbaren Welt leben. 

Wissenschaft und Sport haben etwas von diesem Spielcharakter, sie leben vom offenen Ausgang. Aber man kann sie auch als Vorbereitung zur Arbeit rechtfertigen. Nicht so die Kunst. Sie ist das schlechthin überflüssige: Luxus. Das, was man sich leistet, wenn alle Arbeit getan ist. Wenn die Bedürfnisse, die durch zweckmäßige Tätigkeit versorgt werden können, erledigt sind. Die Welt des Künstlers ist, wie die der Kinder, unvorhersehbar. So sehr er sich müht und plagt: Der Künstler ist der Anti-Arbeiter, und das hat er mit den Kindern gemein. „Ein Bauen und Zerstören in ewig gleicher Unschuld hat in dieser Welt einzig das Spiel des Künstlers und des Kindes“, heißt es daher bei Friedrich Nietzsche.
Soweit, daß uns die Maschinen alle Arbeit abnehmen, sind wir noch nicht. Aber schon gilt die Hauptsorge nicht mehr den Gütern, die durch Arbeit produziert werden können. 

Daran herrscht kein Mangel, sondern Überfluß. Knapp sind inzwischen Dinge, die nicht wiederhergestellt werden können. An denen muß gespart werden, nicht an Arbeit. Luft und Wasser brauchen beispielsweise nicht gekauft zu werden, weil sie nicht durch Arbeit produziert wurden. Werden sie knapp, dann kann sie nicht der Markt verteuern, sondern nur die Politik. Sobald das regelmäßig geschieht, ist der Punkt erreicht, wo Arbeit nicht länger „Maß und Substanz des Wertes“ ist. Sie wird immer überflüssiger in der Produktion, aber immer notwendiger bei der Entsorgung ihrer Abfülle.

Und schon ist nicht mehr die Vorsorge, die Sicherung des Überlebens die Haupttriebkraft des Wirtschaftsgeschehens, sondern die Suche nach der „Lebensqualität“: der Luxus. Sein Urtyp ist die Unterhaltungsindustrie. Als Industrie ist sie noch Arbeit, aber sie ist auch schon Kunst.

Die gegenwärtige Zivilisation ist charakterisiert durch eine galoppierende Entwertung der Arbeit bei gleichzeitiger Aufwertung des Spiels. Ja, spielerische Momente finden inzwischen Eingang in den Arbeitsprozeß selber. Auch in der Industrieproduktion wird das „Erfinden“ zusehends wichtiger - auf Kosten der vom Bedürfnis (alias Nachfrage) vorgegebenen Zwecke. Von der Informatik ganz zu schweigen...

Dem entspricht eine schleichende Entwertung der Erwachsenheit. Wenn Arbeitsfähigkeit nicht länger das auszeichnende Merkmal des vollgültigen Bürgers ist, wenn das Spielen jetzt selber produktiv wird, dann verblaßt und „veraltet“ das Bild des Erwachsenen. 

Zugleich erleben wir einen Vormarsch des Kindlichen. Kiddie Kulture ist ein Marktfaktor; da gehts um Milliarden - echte „Werte“! Und Michael Jackson war der Schrittmacher. Darum war sein „Fall“ so symptomatisch: Daß unser Zeitgeist das Kind zu einem sexuellen Fetisch umgedeutet hat, zeigt auch, wie bedrohlich es empfunden wird.
Bierernste Krämer, die um ihre Wichtigkeit bangen, beklagen die fortschreitende „Infantilisierung unserer Kultur“. Infantil ist nur das verzogene Kind, und bleibt es bis ins Alter. Die Infantilisierung der Gesellschaft ist eine Folge ihrer Pädagogisierung. Sie geht nicht aufs Konto der Kinder, sondern auf das der (gar nicht mehr so) Erwachsenen. Ihren reinsten Ausdruck findet sie in dem populären Lamento: I can get no satisfaction! Es ist die Welt der ewig pubertierenden Rock-Opas. In der Welt von Kiddie Kulture heißt es aber: Billie Jean is not my lover, und es wird unterstrichen durch den berüchtigten Jacko-Griff.

Ob nun - nach Adam Smith - die Arbeit oder - nach Johan Huizinga - das Spiel der Urquell der Kultur war, ist ein Streit um Kaisers Bart. Er läßt sich dialektisch lösen: Die Notdurft war die Triebkraft, der Luxus war das Zugpferd. Auf jeden Fall war es der Überfluß, der die Entwicklung in Gang brachte. Insofern liegt der Untergang der Arbeitsgesellschaft ganz und gar in ihrer eigenen Logik.

Entscheidend ist aber nicht, wie es angefangen hat, sondern worauf es hinausläuft. Friedrich Schiller vertrat die Ansicht, der Mensch sei „nur da ganz Mensch, wo er spielt“. Er war ein Künstler. Unter den Kulturpessimisten, die den Abbau der Erwachsenheit fürchten, sind auffällig viele Pädagogen. Kein Wunder. Sie sorgen sich um ihr Brot. Doch so konservative Geister wie der Kultursoziologe Arnold Gehlen und der Verhaltensbiologe Konrad Lorenz hielten das Kindliche für die eigentliche Bestimmung des Menschen. Sie vertreten die in der Wissenschaft als „Neotenie-Hypothese“ bekannte Auffassung, wonach sich die biologische Gattungsgeschichte der Menschen dadurch auszeichnet, daß wir im Lauf der Generationen immer weiter zu Gestaltformen „zurück“kehren, die im Tierreich spezifisch kindlich sind. Die auffälligsten (aber nicht einzigen) Kennzeichen dieser „ewigen Unreife des Menschen“, wie es der polnisch-amerikanische Philosoph Leszek Kolakowski ausdrückt, sind die relative Übergröße des Kopfes, der Verlust des Haarkleides und die Überlänge der Gliedmaßen bei einem verkürzten Rumpf. Doch wäre das Morphologische alles - es wäre nur eine naturgeschichtliche Kuriosität ohne tiefere Bedeutung. Ihren Sinn erhält die Kindlichkeit unserer Körperformen aber durch die spezifisch menschliche Zugewandtheit zur Welt: unsere Neugier. „Nur der Mensch behält - neben den körperlichen Merkmalen der Jugendlichkeit - auch die kindliche Neugier bis ins hohe Alter. Unsere permanente Wißbegier ist ein persistierendes Jugendmerkmal, unser exploratives Forschen ist dem Spiel des Kindes verwandt.“, schreibt Konrad Lorenz. „Dieses Kind im Manne ist ein echter Lausbub. In der Brust des normalen Erwachsenen leben zwei Seelen, eine, die den althergebrachten Traditonen treu ist, und daneben die Seele des Revolutionärs.“ Oder die Seele des Arbeiters, und daneben die Seele des Spielers. Der Arbeiter ist darauf aus, die Welt vorherzusehen, um sie sich anzuähneln. Die Welt als Vorratslager unserer Bedürfnisse ist aber eine enge Vorstellung, gemessen an der Welt als einem sich stets erneuernden Rätsel : Das Spiel ist die betätigte Freude am immer wieder Fremden. Es ist die menschlichere unserer beiden Seelen. Ja, es ist diejenige Praxis, durch die wir unsere Umweltnische zu einer „Welt“ überhaupt erst weiten.

In jedem Spiel ist Abenteuer, und das heißt Gefahr. Das ist übrigens auch, was menschlichen Eros von animalischem Sexus unterscheidet. Safer love gibts nicht. Die Liebe ist gefährlich, nicht der Sex. Ach, und wieder sind wir bei Michael Jackson. Er mochte sich eine Liebe ohne Gefahr erhofft haben, und wäre fast darin umgekommen. Wie um uns zu zeigen, daß er auch in diesen Dingen „noch ein richtiges Kind“ ist.

Wie keiner vor ihm verkörpert er - als Jacko und als kleiner Michael - jene andere Seele in der Brust des „normalen Erwachsenen“, derer der sich zu schämen ein halbes Leben lang geübt hat. Er ist der „Knabe Mensch“, wie es im Mann ohne Eigenschaften heißt. Daß die Kinder ihm zujubelten, war nicht anders zu erwarten: Er befestigt ihre Stellung in der Welt. Doch auch so manchen Großen bringt er auf dumme Gedanken. Ist er nicht etwa the man in your mirror? Die aber, die am allergischsten auf ihn reagieren, sind womöglich dieselben, die sich seiner Verlockung am wenigsten gewachsen fühlen. Während der Jagd auf Michael Jackson bemerkte man eine Heftigkeit, die der Freudianer unschwer als „Abwehrreaktion“ identifiziert. Er ist verführerisch wie der Teufel.

Was ihn über den (vergleichsweise engen) Rahmen der Unterhaltungsindustrie hinaushebt und zum Zivilisationsphänomen von universaler Tragweite macht: Er verlockt nicht zurück zu einer wehmütigen Erinnerung an eine verlorene Zeit, sondern zum kecken Vorgriff auf morgen. Sein „Rückzug“ ist eben doch ein Vorstoß. Die Arbeitsgesellschaft stirbt ab, und mit ihr die Normalbiographie.

Auch die Erfordernis, die Welt vorherzusehen! Sie muß nicht länger mit Wörtern ausgemessen und und in Begriffen inventorisiert bleiben. Die Reaktionäre, Philister und Pädagogen bejammern wie üblich den Verfall der Kultur. Die modernen Medien, den Krach, den Sieg der Bilder über die Begriffe... Eine Bildung, die auf Wörter, und eine Weltanschauung, die auf Begriffe baut, taugten dazu, die Welt zu durchschauen und zu - verarbeiten. Sie waren die Wegbereiter einer neuen Kultur, deren Ausgang demnächst wieder offen ist. Nachdem sich das „Mängelwesen“ Mensch in der postmodernen Überflußgesellschaft in Sicherheit gebracht hat, fällt es ihm nun wie Schuppen von den Augen: Wenn die Arbeit getan und mein Bedürfnis befriedigt ist, dann bleibt die Welt... immer noch so fremd wie zuvor. (Übrigens erscheint so auch die biologische Überalterung des zivilisierten Menschen, seine „zweite Kindheit“, in einem andern Licht.) Nicht die Arbeit macht uns weiser, sondern die Kunst. Nicht die Angleichung der Stoffe an die Bedürfnisse, sondern, nach Theodor Adorno, „das vom Anderen Angerührtsein“. Nachdem die Arbeit Ordnung ins Chaos gebracht hat, ist die „Aufgabe der Kunst heute, Chaos in die Ordnung zu bringen“.

Das „Herz des Genies“, sagt Jean Paul, ist eine „neue Welt- oder Lebensanschauung“. Michael Jackson teilt uns die seine nicht in Wörtern, sondern in bewegten Bildern mit. Im Bildroman eines künstlerischen Lebens. Daß ihm dabei manches „unbewußt“ unterläuft, bewährt erst seine Echtheit. Das Leben lasse sich nur ästhetisch rechtfertigen, hieß es bei Nietzsche: als Artistik. Noch keiner hat das so radikal genommen wie Michael Jackson. Er ist ein Romantiker. Ein Moderner. Er ist der erste Künstler einer neuen Zeit.


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