Samstag, 7. Mai 2016

3. Opferlamm und Goldesel.


Ein hochmusikalischer Bub von
 zwölf Jahren ist ein vollgültiger Künstler.
Nikolaus Harnoncourt

Der kulturelle Umschlagplatz zwischen Europa und Amerika sind die britischen Inseln. Über England war die schwarze Musik Anfang des Jahrhunderts nach Frankreich und Deutschland gekommen. Hier fand der Soul, vor allem in seiner „nördlichen“ Variante, ein solides Milieu von Jazz- und Blues-Freunden vor. Englands Jugend war in die verfeindeten Lager der Rocker und der Mods gespalten, und bei letzteren, den „moderaten“ Liebhabern des Sanften und Raffinierten, fand Motown rasch seine Abnehmer; genug, um eine eigene britische Filiale eröffnen zu können. Der große Einfluß, den The Sound Of Young America auf die Entwicklung der europäischen Unterhaltungsmusik nahm, ist dokumentiert in den zahlreichen cover-Versionen, die in ihren Anfangsjahren sowohl die Beatles als auch die Rolling Stones von Motown-Titeln gespielt haben - nicht nur live im Konzert, sondern auch auf Platte. (Ein cover nennt man die Neuaufnahme eines älteren, schon erfolgreichen Stücks durch neue Interpreten.) Beide Gruppen, die seither selber Musikgeschichte gemacht haben, verstanden sich am Anfang als R&B-Musiker. „Ursprünglich haben wir nur das gespielt, was uns gefiel, nämlich Rhythm& Blues“, erzählt Mick Jagger, und die Beatles gingen sogar mit den Motown-Stars gemeinsam auf Tournee, wenn sie aus Amerika herüberkamen. Smokey Robinson erinnert sich: „Sie achteten uns nicht nur, sie bewunderten uns richtig. Und wenn sie von den Reportern nach ihren Einflüssen gefragt wurden, dann schwärmten sie jedesmal von Motown.

Zurück zum Sommmer 1968. Schon drei Tage nach ihrem Besuch im Hitsville, USA-Studio wurden die Jacksons nach Detroit zurückbeordert. Ralph Seltzer wartete mit dem Vertrag. Ohne ihn lange zu studieren, unterschrieb Joe. (Wenige Jahre später sollte er diese Hast bereuen. Er hätte wissen können, daß Berry Gordy nicht im Ruf besonderer Großzügigkeit stand.) Die Jackson-Brüder gingen zunächst einmal weiter zur Schule, wie bisher, aber statt ihre Wochenenden auf der Wanderschaft von einer Bühne zur andern zu verbringen, fuhren sie jetzt regelmäßig zu Aufnahmesitzungen nach Detroit. Doch Monate gingen ins Land, ohne daß eine Schallplatte zustandekam. Mr. Gordy war einfach nicht zufriedenzustellen. Was immer die Jackson 5 ablieferten, wurde zurückgewiesen. Freilich, darauf gründete ja der Erfolg von Motown: daß Berry Gordy keine halben Sachen machte. Er war ein Perfektionist, und ehe er nicht absolut, wirklich absolut von einer Aufnahme überzeugt war, kam sie nicht auf den Markt. Aber diesmal kam noch etwas hinzu. Es stand nicht nur für die Jackson-Familie, sondern auch für Motown viel auf dem Spiel.

Seit einem Jahr bereits betrieb Gordy den Umzug seiner Firma aus der Motorstadt ins warme Kalifornien! Eine der größten Plattenfirmen, das größte Geschäftsunternehmen in schwarzer Hand - das war für seinen Ehrgeiz nicht genug. Er wollte einen Medienkonzern schaffen. Und dazu mußte er nach Hollywood. Aber das war riskant. Das Image - nein, der Ruhm Motowns stand auf dem Spiel. Wenn man sich so herzlos von seinen Wurzel losriß, mußte man schon mit etwas Besonderem aufwarten; Motown mußte einen act kreieren, der den Umzug nach Los Angeles glaubhaft verkörpern konnte. Da kamen die Jackson 5 gerade recht.

Eine Kinderband, das war mal was anderes, aber ganz einmalig war es nicht. Doch eine Kinderband, die das Zeug zur Nummer Eins hatte - das gabs noch nie! „Michael war der geborene Star, ein Naturereignis“ - das konnte Berry Gordy auf den ersten Blick erkennen. Motown war nicht nur die große Chance der Jackson 5, sondern die Jackson 5 waren auch eine große Chance für Motown. Freilich die letzte, aber das ahnte damals keiner.

Am allerwenigsten die Familie Jackson. Sie saßen wie auf glühenden Kohlen. Da waren sie nun endlich an ihrem heißersehnten und mit harter Arbeit wohlverdienten Ziel angelangt - dem Plattenvertag mit Motown; und dann wollte einfach nichts zustandekommen! Sollte etwa der Vertrag platzen, bevor er noch wirksam wurde? Im Haus 2300 Jackson Street, das nie ein Hort des Friedens gewesen war, wuchs die Spannung. Joe wurde noch gewaltsamer als sonst.

Ein ganzes Jahr harter, aber ergebnisloser Arbeit. Dann wurde es Berry Gordy zu bunt. Nein, er löste den Vertrag nicht, ganz im Gegenteil. Er beschloß vielmehr, die Dinge selber in die Hand zu nehmen, und befahl den Jacksons, zu ihm nach Hollywood zu kommen. Am 9. August 1969 trafen sie in Los Angeles ein. Zwei Tage drauf sollte eine Begrüßungsfeier im Daisy stattfinden, einer Disco, die in Beverly Hills gerade in Mode war. Es wurde ein großer Empfang - denn Motowns Zugpferd Diana Ross hatte alle eingeladen, die in der Branche Rang und Namen hatten.

Auf den Einladungskarten stand zu lesen: „Die Jackson Five mit dem sensationellen achtjährigen Michael Jackson werden live auftreten.“ Die fünf Brüder waren perplex, am meisten der Kleinste, der in knapp drei Wochen seinen elften Geburtstag haben sollte. Kaum einen Tag in Hollywood, hatten sie eine erste Lektion zu lernen. Motown sollte sie in den kommenden Jahren alle um zwei Jahre jünger machen: Das war gut für die Publicity. Und um auch gleich die erwünschte Aufmerksamkeit auf seinen neuen top act zu lenken, setzte Mr. Gordy die Legende in die Welt, die Kinderband sei von Diana Ross durch einen reinen Zufall, nämlich bei besagter Wahlkampfveranstaltung für den Bürgermeister von Gary entdeckt worden. Das hieß zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Einerseits wurde der neue, noch unbekannte Name öffentlich mit einem schon berühmten alten assoziiert. Und andererseits wurde so das Image von Diana Ross, die sich gerade anschickte, eine Solokarriere zu starten, aus der engen Verbindung mit The Supremes gelöst, mit denen sie bislang identifiziert worden war.

Die Jackson-Brüder würden sich schon bald daran gewöhnen müssen: In der Traumfabrik Hollywood interessiert nicht, ob etwas stimmt, sondern wie es sich anhört. Wenn aber Legenden ein wirkliches Geschäft begründen können, werden sie selbst zu einem Teil der Wirklichkeit - und werden „in einem gewissen Sinne“ wahr: Seit dem Aufstieg des Showbusiness zu einem mächtigen Industriezweig ist der Unterschied zwischen Schein und Sein nicht mehr so eindeutig, wie man vorher glaubte.
Die Empfangsparty wurde ein überwältigender Erfolg. Gordy hatte das Publikum vorsichtshalber mit den Angestellten von Motown durchsetzt, aber das wäre gar nicht nötig gewesen. Die Gäste gerieten ganz aus dem Häuschen, und am nächsten Tag überschlug sich die Presse vor Begeisterung. Dem Aufstieg der Jackson 5 zum top act stand seitens des Publikums offenbar nichts im Wege. Jetzt mußte nur noch die richtig Platte gemacht werden.

Berry Gordy hatte den fünf Jungen enthusiastisch versprochen, er werde ihre drei ersten Platten zu Number-One-Hits machen, und zu Michael sagte er: „Aus dir mach ich das dickste Ding der Welt“ - I gonna make you the biggest thing in the world! Doch ohne gute Lieder war nichts zu machen. Das Geheimnis von Motowns Erfolg beruhte zur Hälfte auf Gordys fast übernatürlichem Gespür für künftige Hits und für künftige Stars. Die andere Hälfte war die absolute Professionalität seiner Produktionsmaschine. Beides spielte ineinander. Die Maschine produzierte pausenlos, und wenn ein Stück Gordy im Ohr klingelte, dann wurde nach allen Regeln der Kunst und des Handwerks so lange daran gebastelt, bis es ein Erfolg werden mußte. Und der Boss hatte sich nur selten geirrt.

Motowns erfolgreichste Hitlieferanten der sechziger Jahre waren das legendäre Trio aus den Brüdern Brian und Eddie Holland sowie Lamont Dozier gewesen. Aber sie hatten die Firma 1967 im Unfrieden verlassen (wie es übrigens alle Motown-Stars früher oder später taten). Umso wichtiger wurden die Jackson-Brüder für Berry Gordy: Soviel Neuanfang bei Motown mußte mit einem Paukenschlag gefeiert werden, um ihn dem Publikum glaubhaft zu machen. Vom gelungenen Einstieg der Jacksons hing zu viel ab, als daß Gordy dem Zufall eine Chance lassen konnte. Das hatte er noch nie getan - und diesmal schon gar nicht. Nichtmal die Interpreten selbst hatte Gordy von seinem Perfektionismus ausgespart. Auch an ihnen wurde so lange geputzt und poliert, bis sie hundertprozentig in das Bild paßten, das Gordys Fachleute für sie entworfen hatten. Zu diesem Zweck hatte Motown eine eigne Abteilung unterhalten, die Artist Development Division, ebenso legendär wie Motown selbst. Hier wurden die Künstler nicht nur gestylt, sondern sie bekamen ihren letzten Schliff; Stimmbildung, Gesangsunterricht, Bühnenchoreographie, aber auch gute Manieren, Interviewtechnik und alles, was sonst noch zum Showbiz gehört... Doch auch Artist Development war anläßlich der Umzugs von Detroit nach Los Angeles, der sich insgesamt von 1967 bis 1972 hinzog, abhandengekommen. Für die Jacksons wurde, angesichts ihrer großen Bedeutung für die Firma, eine individuelle Betreuung beschlossen, und Gordy übertrug sie seiner damals erst vierundzwanzigjährigen Assistentin Suzanne de Passe.

Doch viel wichtiger für den gerade elfjährigen Michael: Zum erstenmal ist er von seinen Geschwistern und von seinem brutalen Vater getrennt! Die Jackson-Familie war ohne Wohnung in Los Angeles, und bis etwas Passendes gefunden wurde, sollte viel Zeit vergehen. Die Mutter und die Schwestern waren mit dem kleinen Randy in Indiana geblieben, das dortige Haus mußte verkauft werden, aber es war ja noch gar nichts entschieden... Joe und die älteren Brüder wohnten einstweilen bei Gordy in dessen großem Haus in Hollywood, der jüngste der Jackson 5 kam aber zu Diana Ross, nur ein paar Hausnummern weiter unten.

Auf einmal stand die Welt Kopf für den kleinen Negerjungen aus den ärmlichen Verhältnissen in der kalten Industriestadt am Michigan-See. „Alles war so neu und aufregend für mich. Es war, als hätte sich die Welt in einen wundervollen Traum verwandelt“, schwärmt Michael rückblickend in Moonwalk; „ich war damals nicht zu bändigen.“ Südkalifornien im Winter - sanfter, sonniger, freundlicher als Gary im Hochsommer. Disneyland, Sunset Strip, das Meer – „Jeder Tag war anders!“ Ganz anders jedenfalls als das bisherige Leben der Jackson-Brüder, das nur aus Entbehrung und rastloser Arbeit bestanden hatte; „tagein, tagaus proben“! Selten mal etwas Ruhe, noch seltener ein fröhlicher Augenblick, aber immer - die Furcht vor dem grausamen Vater. Anderthalb Jahre sollte Michael bei Diana wohnen. Aus dem wenigen, was Michael Jackson bislang über sein Leben zu erzählen bereit war, klingt durch: Das war der einzige glückliche Abschnitt. „Es war eine rauschende Zeit.“

Diana Ross stand gerade auf jenem Höhepunkt einer Karriere, den man im Rahmen einer Gruppe erreichen kann. Mit dem Trio The Supremes war sie an die Spitzen der Charts vorgerückt und zum Flaggschiff von Motowns Crossover-Sound geworden. Aber auch privat stand sie bei Berry Gordy ganz obenan. Wie so viele seiner Stars, hatte er sie selbst entdeckt, gefördert und aufgebaut. Dabei waren sie sich menschlich näher gekommen, als es fürs Gordys Ehe gut war. Aber es war eine stürmische Beziehung, das wußte jeder bei Motown. Der kleine Michael bekam es jetzt auch mit. Zugleich nahm er sich die Rolle der guten Fee, die Diana öffentlich für ihn und die Jackson 5 zu spielen hatte, sehr zu Herzen. Sie war die erste schwarze Schönheit, die auch weiße Männer zum Träumen brachte, und den kleinen Michael erinnerte sie an seine eigne, daheim zurückgelassene Mutter, „als sie noch jünger war“. Sie ging mit ihm in Museen und brachte ihm die Malerei näher, in der sie sich selbst versuchte. Bei ihr begann Michael zu zeichnen (und macht es bis heute nicht schlecht). „Sie war zugleich meine Mutter, meine Geliebte und meine Schwester - vereint in einer einzigen, aufregenden Person.“

Aber nicht zum Zeichnen und Schwimmen hatte ihn Berry Gordy nach Beverly Hills geholt. Endlich war auch ein passender Song gefunden worden. Nach dem Weggang von Holland-Dozier-Holland war bei Motown eine neues Komponisten- und Produzenten-trio am Werk, bestehend aus Freddy Perren, Fonze (Alfonso) Mizelle und Deke Richards, die so erfolgreich wurden, daß sie sich unter der Firma The Corporation ins Handelsregister eintragen ließen. Für Gladys Knight and The Pips hatten sie I Want To Be Free verfaßt, aber Gordy ließ es für die Jackson-Jungens in I Want You Back umschreiben. Fieberhaft arbeitete The Corporation mit den fünf Jungen, und nach zwei Dutzend Aufnahmen waren sie so zufrieden, daß das Ergebnis dem Boß vorgespielt wurde. Der hängte noch ein halbes Dutzend Aufnahmen dran, und dann gab auch er sein OK.

Es war höchste Zeit. Am 18. Oktober 1969 hatten die Jackson 5 ihr Fersehdebüt - bei ABC in der Sen-dung Hollywood Palace, und bei der Gelegenheit wurde I Want You Back vorgestellt. Gleichzeitig kam die Single in die Läden. Berry Gordy behielt recht: In der vierten Januarwoche des Jahres 1970 war I Want You Back die Nummer eins der Billboard Charts - Pop und Black gleichermaáen.

Rechtzeitig fürs Weihnachtsgeschäft war eine erste LP auf die Ladentische gekommen, Diana Ross presents The Jackson Five. Auch sie wurde Nummer eins in den Pop- und den Black Charts. Als Produzent zeichnete Bobby Taylor, dessen Anteil an Motowns Neuentdeckung doch nicht ganz ungewürdigt blieb. Und am 14. Dezember traten die fünf Jungen aus Gary, Ind. in der Ed Sullivan Show auf. Das war der Adelsschlag des Showbiz, denn es war Ed Sullivan, der nicht nur Elvis Presley, sondern auch die Beatles einem nationalen Publikum vorgestellt hatte. Diana saß mit den Supremes im Saal und ließ sich von Sullivan zur Entdeckung der Jackson-Brüder gratulieren: „Sie sind wirklich umwerfend! Besonders der kleine Kerl da vorn ist unglaublich.“ Das war der Durchbruch.

Im Februar folgte die zweite Single, ABC. Die erste hatte mit Worten wie „Oh Baby, gib mir nochmal eine Chance! Ach laß mich doch zurück in dein Herz!“ im Mund eines eben Elfjährigen etwas eigenartig geklungen, doch die Nummer zwei war ganz auf ein Publikum abgestimmt, das so alt war wie die Künstler selbst... Musikalisch war sie eigentlich nur eine Variante der ersten, doch deren Erfolg war groß genug, um diesen Abklatsch noch zu vertragen. In der vierten Aprilwoche war ABC Nummer eins bei Billboard. Und das war mehr als nur ein Erfolg. Das war fast schon ein historisches Ereignis; denn das Lied, das ABC vom ersten Platz verdrängte, war kein anderes als Let It Be von den Beatles! Die hatten damit gerade einen Rekord aufgestellt: Mit Let It Be waren sie auf Anhieb auf Platz 6 in den Top 100 bei Billboard eingestiegen - das hatte es noch nie gegeben! Es sollte exakt ein Vierteljahrhundert dauern, bis ihr Rekord gebrochen wurde. (Und ahnen Sie, lieber Leser, von wem?)

Und gleich noch einmal mußten die fabelhaften vier Liverpooler den Jungens aus Gary, Ind. weichen: In der letzten Juniwoche verdrängte die Single The Love You Save aus dem ABC-Album den Beatles-Hit Long And Winding Road vom ersten Platz. - Wenn man heute die beiden ersten Alben der Jackson 5, die längst als CD vorliegen, wieder anhört, ist man nicht ganz sicher, was ihren Erfolg damals begründet hat. Es ist Musik für teenyboppers, die allerjüngste Käufergruppe, alles ziemlich schnell, die Begleitung liegt fast ganz bei der Rhythmusgruppe, aber artig und gepflegt. Es ist bubblegum soul - so genannt nach der bevorzugten Kaugummimarke dieses Publikums. Es schmälert die Leistung der fünf Jungen nicht, wenn man die Wandlungen des Zeitgeists erwähnt, die ihren Erfolg ermöglicht haben. Vom 15. bis 18. August, eine Woche nach der Ankunft der Jackson 5 in LA, hatte in Woodstock im Staate New York das größte Rockkonzert aller Zeiten stattgefunden - der Höhepunkt der Hippie-Kultur der sechziger Jahre. Aber, wie sich zeigen sollte, auch ihr Schlußpunkt. In der Nacht, als die Jungens bei Berry Gordy eintrafen, fand zwei, drei Meilen weiter weg ein Verbrechen statt, das damals kaum weniger Beachtung fand, als das Rockfestival an der Ostküste, nämlich die Ermordung der Schauspielerin Sharon Tate durch Anhänger der Teufelsanbetersekte von Charles Manson. Das anständige Amerika war entsetzt. Das also waren die Folgen der Sex-, Drogen- und Rock'n'Roll-Bewegung!

Das Bild der Jacksons als einer sauberen, adretten und wohlerzogenen Großfamilie, die sich aus eigener Kraft von ganz unten nach weit oben gearbeitet hatte, entsprach haarscharf den traditionellen Werten des „amerikanischen Traums“. Und doch verkörperten sie nicht einfach die gesellschaftspolitische Reaktion und eine bloße Wendung nach rückwärts: Sie repräsentierten den Fortschritt, denn sie waren - schwarz. Sie waren die Zukunft - aber ganz harmlos! Ihr Erfolg war der Beweis, daß die Integration der „Afro-Amerikaner“ in die weiße Gesellschaft auf guten Wegen war - und daß sie nicht der Unordnung, der Ungesetzlichkeit, des Aufruhrs bedurfte, sondern auf den bewährten W-gen des amerikanischen Mittelstandes voranschritt: Bildung und Eigentum! Darauf hin hatte Berry Gordy das Erscheinungsbild der Jackson 5 getrimmt, und vor allem die Legende von ihrem liebevollen, behüteten Familienleben war so wesentlich für den Erfolg, daß eigentlich alle daran glaubten; beinah auch sie selber.
Der harmlose, fröhliche, unbeschwerte Klang des Bubblegum Soul der Jackson 5 traf den Nerv der Zeit. Musik für die ganze Familie, das konnten Mummy und Daddy im Fernsehen bedenkenlos mit ihren Kindern angucken. Aber ein Zeitbedürfnis kann sich schnell ändern. Es ist wie Sand, auf den man nicht bauen kann. Gordy wollte etwas Dauerhaftes. Die Kinderband mußte zeigen, daß sie mehr konnte als nur Unterhaltung für Gleichaltrige (und ihre Eltern).

The Corporation hatte gehalten, was Gordy versprochen hatte - drei Nummer-Eins-Hits in Folge, gleich zu Beginn. Das war bereits ein Rekord. Doch nun nahm der Boß die Dinge abermals selbst in die Hand. Gordy bastelte eine langsame Ballade mit viel Gefühl, bei denen die unverbrauchten Stimmen des elfjährigen Michael und des fünfzehnjährigen Jermaine so recht zur Geltung kamen. Ein Liebeslied mit Herz und Schmerz aus Kindermund - konnte das gutgehen? Bei Motown war man sich einig: Das mußte ein Flop werden. Aber wer durfte dem großen Boß widersprechen?

Am 19. Mai hatten die Jackson 5 im Los Angeles Forum ihr erstes öffentliches Konzert als Motown-Truppe gegeben, vor 18 000 Zuschauern, es war zu Tumulten gekommen, Mädchen fielen in Ohnmacht wie letztmals 1965 beim Besuch der Beatles in Hollywood Bowl. Da war Gordy seiner Sache sicher. Im August kam ihre vierte Single auf den Markt. I'll Be There wurde zum gr”áten Erfolg, den die Jackson 5 je hatten. Der drittgrößte Hit in Motowns ganzer Geschichte. In der letzten Septemberwoche ist es so weit: Die vier ersten Singles waren Number-One-Hits in den Billboard-Charts geworden. Berry Gordon hatte sein Versprechen überboten. Und wieder war Motowns charakteristisches Crossover-Rezept aufgegangen: Nummer-Eins-Hits in den Pop- und den Black-Charts zugleich!

Zum erstenmal begegnet uns in I'll Be There aber auch jene beunruhigende Mehrdeutigkeit, die den kleinen Michael sein Leben lang begleiten soll - und in der wohl das Geheimnis seines Welterfolges liegt. Es ist ein Liebeslied. Ein Junge schwört seinem Mädchen ewige Treue: Wherever you need me - just call my name, and I'll be there; wo immer du mich brauchst - ruf nur meinen Namen, und ich bin da. Aber es ist ein kleiner Junge, der da singt, und ein größerer Junge, der ihm antwortet, die Stimmen sind voller Ausdruck, aber sie sind durchsichtig und knabenhaft spröde, sie passen nicht zum Text! Man kann also I'll be there auch als eine Hymne auf die Bruderliebe hören, wenn man will. Man kann es überhaupt so hören, wie man will, es steht nichts fest. Nur eines kann man nicht: man kann es nicht wörtlich nehmen.

You and I must make a pact
We must bring salvation back
Just call my name
And I'll be there.
I reach out my hand to you
I'll have faith in all you do
wherever you need me
I'll be there.

1992 brachte Mariah Carey bei Motown ein Remake von I'll Be There heraus, das ebenfalls auf Platz eins gelangte. Was man sonst auch von der Aussagekraft ihrer Stimmakrobatik halten mag: Die neue Eindeutigkeit bekommt dem Lied jedenfalls nicht. - Auch Michael Jackson singt das Lied - übrigens als einzigen Titel aus seiner Kinderkarriere - noch heute auf seinen Tourneen. Aber bei ihm ist es kein bißchen eindeutiger als damals: Ist es der große Jacko, der da singt - oder immer noch Little Michael von den Jackson5?

Berry Gordy hatte seine Wette gewonnen, das nächste Album - schlicht Third Album betitelt - hatte auf der A-Seite nur seelenvolle langsamere Stücke, darunter ein beachtliches Cover von Simon & Garfunkels Superhit Bridge Over Troubled Water, das Jermaines Stimme noch einmal voll zur Geltung brachte. Abgeschlossen wurde die A-Seite von einem heißen Tanzstück, das zur flotteren B-Seite überleitete, Goin' Back to Indiana, das überraschend nach The Family Stone klingt und die triumphalen Rückkehr der Jackson5 in ihre Heimat vorbereiten sollte. Am 9. Oktober waren die Jungen nämlich zur ihrer ersten Tournee durch die USA aufgebrochen. Es sollte ein einziger Siegesmarsch werden, mit allem, was dazugehört, ohnmächtigen Fans, Krankenwagen, Verkehrschaos, Bombendrohungen. Jacksonmania tauft es die Presse, in Anlehnung an „Beatlemania“, den Triumphzug der Beatles fünf Jahre zuvor. Mitten in die Tournee fällt die Auslieferung von The Jackson5 Christmas Album, die ihr familiäres Image festklopfen soll. Ein Höhepunkt der Tournee ist im November ihr ausverkauftes Konzert im Madison Square Garden in New York. Den Abschluß bilden zwei Benefiz-Konzerte im schnee-bedeckten Gary, Ind. zur Wiederwahl von Bürgermeister Richard Hatcher. Zum Empfang wird für eine Woche die Jackson Street in Jackson5 Boulevard umbenannt, und vor dem Haus N° 2300 wird ein Schild aufgestellt: Welcome home Jackson5 - keepers of the dream - Willkommen zuhaus, Bewahrer des Traums! Und an der Staatsuniversität von Indiana wird eine Plakette enthüllt, die der Jackson5 gedenkt, die „den jungen Leuten die Hoffnung zurückgebracht“ haben...

Ja, so sieht der Ruhm aus.

Es werden noch viele siegreiche Tourneen folgen, weit über die Grenzen der Vereinigten Staaten hinaus, und die Jackson5 werden auch mit ihrer nächsten LP noch einen großen Erfolg feiern. Da werden die älteren Brüder auch noch live ihre Instrumente spielen. Auf Motowns Platten, wo alles hundertprozentig sein mußte, war von Anfang an eine Studioband zu hören. Heute, da die Konzerte längst vergessen und nur die Schallplattenaufnahmen zurückgeblieben sind, muß man rückblickend sagen: Die große Zeit der Jackson5 währte ein ganzes Jahr. Sie waren eine Zeiterscheinung. Ihr Schlachtroß war ihr Jüngster, „Little Michael of the Jackson Five“, wie er von nun an für lange Jahre heißen sollte, der Kleine Michael von den Jackson5. Der war die Ausnahme. Der sollte dauern. Der war ein künstlerisches Genie - das konnte man hören und sehen.

Wir schreiben nicht die Geschichte der amerikanischen Popmusik, sondern die Lebensgeschichte des größten Stars aller Zeiten. Was immer sonst zu seiner schwindelerregenden Karriere beigetragen haben mag - ohne seine außerordentliche Begabung wäre gar nichts gegangen. Aber was hat es damit auf sich? Sicher, „wo“ er sie „her“ hat, werden wir nicht ergründen. Aber worin liegt sie, woraus besteht sie? Kann man sie mit irgendetwas Vertrauten vergleichen? 

Zuerst einmal war er ein Sänger. Daß Knabenstimmen vor dem Stimmbruch mitunter eine eigentümliche, herb-süße Schönheit, ein Art glühende Kühle entwickeln, die zugleich das Gefühl von Wagemut und das von Gefährdung vermittelt, ist weithin bekannt, wennauch nicht von allen geschätzt. Daß unter den musikalischen Wunderkindern die Jungen überwiegen, ist ebenso bekannt (ohne daß man freilich eine Erklärung dafür hätte). So ganz einzigartig wäre Michael Jackson in dieser Hinsicht also nicht - wenn es nur das wäre...

Es ist aber nicht nur das. Deutlich wird es beim Vergleich von Little Michael mit Little Stevie Wonder - jenem anderen noch heute weltberühmten Wunderknaben, den Berry Gordy entdeckt hat. Halten wir eingangs fest, daß man sie natürlich gar nicht vergleichen kann, und dann tun wir's doch. Little Stevies rabenschwarzer Knabenalt kommt ohne Umweg, wie man heute sagen würde, aus dem Bauch. Er ist ein Naturgenie. Man hört es deutlich: würde es durch künstlerische Absicht gefiltert, so würde es gebrochen. Die Probe aufs Exempel: Das eindrucksvollste Dokument aus Stevie Wonders Kinderkarriere ist der Live-Mitschnitt eines Konzerts aus dem Jahre 1963, Little Stevie Wonder, 12-year old Genius. Danach mag man seine Studioaufnahmen aus derselben Zeit nur noch mit Betrübnis hören. Aber das ist nicht der springende Punkt. Little Stevies tiefe Stimmlage ist naturgemäß ausdrucks-, d. h. modulationsfähiger als Little Michaels helles Kinderstimmchen. Er hat den natürlichen Soul-Klang. Und dennoch: Wenn der blinde Stevie singt, dann klingt es, und sei sein Lied noch so traurig, als bräche nach einem verregneten Vormittag kurz vor zwölf doch noch die Sonne durch.

Der Kleine Michael kann singen, was er will, es zerreißt einem das Herz. Ob es sentimentale Balladen wie I'll Be There oder (später) Ben waren oder betont fröhliche Stücke wie Rockin' Robin und  Goin' Back To Indiana: „Er sang alles mit einem tüchtigen Schuß Schmerz. Dabei war er doch noch ein Kind! Wo hatte er bloß diesen Schmerz her?“ erinnert sich sein Mentor Berry Gordy. „Als habe er alles, was er sang, schon selber erlebt!“ Und Smokey Robinson, damals zum inneren Kern der Motown Family zählend, sagt: „Michael war ein merkwürdiges und liebenswertes Kind. Mir kam er immer vor wie eine uralte Seele in einem Knabenkörper.“

Little Stevies jubilierender Soul ist sozusagen mehr Gospel. Michaels klagender Soul ist mehr Blues. An der Stimmphysiologie allein kann es kaum liegen. Da muß die Persönlichkeit des Interpreten im Spiel sein. Der kleine Michael wird allenthalben als ein fröhliches Kind geschildert. Unter seiner unersättlichen Spottlust und seinem Schabernack hatten die älteren Geschwister nicht wenig zu leiden. Wenn man seiner älteren Schwester glauben will, war er eines dieser kleinen Monster, die man am liebsten erwürgen möchte. Aber im Gesang des Elfjährigen ist es nicht zu überhören: Die heitere Fassade verbirgt schon damals eine tiefe Traurigkeit. Little Michael of the Jackson5 wäre nicht das erste schwermütige Kind gewesen, dem es durch forcierte Lustigkeit gelang, von sich abzulenken - nicht zuletzt sich selber. Schwermut, egal woher sie kommt, ist nicht eins von diesen modernen „Bedürfnissen“, die „ganz wichtig“ sein wollen. Sie will vor allem in Ruhe gelassen werden.

Gemerkt hat es damals wohl keiner. Man darf annehmen, daß der Motown Family die Wahrheit über das Familienleben der Jacksons so wenig verborgen geblieben ist wie ihnen selbst. Aber sehen und wahrnehmen sind zweierlei. Kein Betrug ist so erfolgreich wie der Selbstbetrug.

Der Ausdruck „Motown-Familie“ war übrigens mehr als nur ein Reklame-Slogan. Berry Gordy hattte seinen Konzern tatsächlich wie einen großen Familienclan aufgezogen, über den er herrschte wie ein Patriarch. Es fing damit an, daß er von vornherein seine Geschwister, Cousins, Nichten und Neffen, Onkels und Tanten an allen Schlüsselstellen der Firma unterbrachte. Bei Motown ging es so vertraulich und auch so autoritär zu „wie in einer richtigen Familie“. Alle Musiker, alle Techniker, alle Bürokräfte - Diana Ross hatte bei Motown als Gordys Sekretärin angefangen - wurden in diesen trauten Kreis hineingezogen, der nach außen hermetisch abgedichtet war. Es entsprach dem Temperament des menschenscheuen, zurückhaltenden Firmenchefs, sich die Neugier der Medien vom Hals zu halten. Die Geheimniskrämerei, mit der er alles umgab, was mit Motown zu tun hatte, erwies sich freilich auch als eine geniale PR-Strategie. Wenn die Blätter nichts wußten, mußten sie raten, ihre Phantasie betätigen, die Storys, die sie schreiben wollten, selbst erfinden. Durch gezielte Fehlinformationen konnte man die Spekulationen erst recht anheizen - um dann trocken zu dementieren. So wurde man überhaupt erst richtig interessant. - Kommt Ihnen das bekannt vor, lieber Leser? Der größte Star aller Zeiten hat immer wieder gerühmt, wieviel er bei Berry Gordy gelernt hat. Das gehört auch dazu.

Aber bitte: Berry Gordy ist wirklich schüchtern, ist wirklich menschenscheu. Wird es unecht, weil es außerdem auch noch verwertet wird? Entertainment ist ja ein Geschäft, wo das Erscheinungsbild, das Design dem Produkt nicht nachträglich von außen hinzugefügt wird, sondern - sie sind das Produkt selbst! Da gibt es überhaupt nur zwei Möglichkeiten. Entweder man setzt etwas in Szene, was man in Wirklichkeit nicht ist. Oder man setzt das in Szene, was man wirklich ist. Aber in Szene gesetzt ist es in jedem Fall. Daraus besteht nämlich das ganze Gewerk. Was es ist und wie es aussieht ist hier ein und dasselbe: Es ist Kunst.

Michael kam sich in Südkalifornien wie im Paradies vor. Statt der Enge, des Kleinlichen und Schäbigen seiner bisherigen Existenz war hier alles weit, großzügig und schön. Und endlich war die ständige, zentnerschwere Sorge von ihm gewichen: Ob wir es jemals schaffen werden? Auf einmal war das Leben leicht. Da merkte er gar nicht, daß er bei Motown in einer Art Retorte gelandet war. Die Rundreise auf dem Chitlin Circuit, das Regal in Chicago, das Apollo in Harlem, das Uptown in Philadelphia - das war, bei aller Schinderei, doch auch das pralle Leben gewesen. Als Star bei Motown - das war eine Existenz in vitro. Ein kleiner Kreis bekannter Gesichter - dahinter war die Welt zuende. So wie damals, eingesperrt in dem Häuschen  2300, Jackson Street! Nur viel luxuriöser... Später, während der monatelangen Konzerttourneen, sollte es ihm aufgehen: Er lebte wie ein Gefangener.

Inzwischen war die ganze Jackson-Familie in Hollywood versammelt. Motown hatte eine Villa in der Queen Road gemietet, aber da gab es bald Ärger mit den Nachbarn: Es war zu laut, die Kinderband probte noch immer jeden Tag. „Wir sind ausgezogen, weil die Häuser zu dicht beieinander standen. Wir hatten im Haus ein Studio eingerichtet, 16 Spuren! Und wenn wir probten, haben sich die Nachbarn beschwert. Da sind wir ausgezogen. Aber nur ein Star hat sich beschwert. Frank Sinatra hat über uns gewohnt.“ 
Was denn, Frank Sinatra hat sich beschwert? „Nee, der hat sich nie beschwert. Aber sein Balkon war direkt über uns!“, plappert der inzwischen Zwölfjährige - damals noch nicht der schweigende Schrecken aller Reporter. Auch in dem neuen Heim, das Motown für sie gemietet hatte, blieben die Jacksons nur bis zum Frühjahr 1971. Dann erstand Joseph Jackson für eine Viertelmillion Dollar ein Grundstück in der Hayvenhurst Alley in Encino mit einer 22-Zimmer-Villa. Encino liegt nördlich von Los Angeles, am jenseitigen Hang der Hollywood Hills, etwa vierzig Autominuten außerhalb der Millionenstadt. Hier waren sie nicht mehr die Nachbarn von Berry und Diana, hier waren sie wieder ganz unter sich - so wie Joe es wünschte. Anders als man vielleicht erwarten sollte, war der Vater durch den Erfolg, der alle Hoffnungen weit übertroffen hatte, kein wenig sanftmütiger geworden. Er war zwar jetzt ein reicher Mann, aber als Manager seiner Kinder hatte ihn Gordy praktisch ausgebootet. Sein Name stand wohl in dem Vertrag mit Motown, aber in Wirklichkeit traf Suzanne de Passe die wichtigen Entscheidungen (falls sie sich der Boß nicht selber vorbehielt). Je weniger er im Geschäft zu melden hatte, umso stärker trumpfte er zuhause auf. Es hagelte Schläge wie eh und je, und die Demütigungen blieben an der Tagesordnung. „Er gab uns das Gefühl, wir seien völlig wertlos und taugten zu gar nichts“, sagt Michael. Sein Standardsatz: You're all nuthin' – „ihr seid alle Nichts!“ Joe Jackson schrieb nämlich den Erfolg seiner Söhne nicht ihnen, sondern... seiner harten Hand zu. Selbst Little Michaels geniale Veranlagung schien er für sein eigenes Verdienst zu halten.  

Die Rede ist hier nicht von zwar beklagenswerten, aber gelegentlichen Exzessen. Es ist weniger banal. Wir reden von einem Leben in Furcht und Schrecken. „Schon ein Blick von ihm ließ einen schaudern. Ich hatte furchtbare Angst vor ihm. Mir wurde schon schlecht, wenn er mir nur nahekam. Ich mußte mich sofort übergeben. Als Kind, aber auch noch als Erwachsener.“ Das erzählte der inzwischen vierunddreißigjährige Michael vor sechzig Millionen Zuschauern.

So war es mit der ungeheuren Leichtigkeit des Seins bei den Ersatzeltern Berry und Diana schon nach wenigen Monaten vorbei. Immerhin - die Mutter war wieder da. In den ersten Wochen hatte Michael eine normale Grundschule in LA besucht und folgte dann Marlon an die Emerson Junior High School in Beverly Hills, aber da blieb er nicht lange: Nach zehn Tagen gab es die erste telefonische Bombendrohung, und beide Jungen wurden eilig im exklusiven Buckley-Institut im nahegelegenen Sherman Oaks untergebracht.

Doch oft sollte Michael die Schulbank nicht mehr drücken. Von nun an verbrachte er einen Gutteil seines jungen Lebens wieder unterwegs - auf der Reise von Konzert zu Konzert, von Fernsehshow zu Fernsehshow. Die erste große Tournee war im Oktober 1970 gestartet und ging erst an besagtem 31. Januar in Gary zuende. Nach mehreren Live-Auftritten im Fernsehen begann im Sommer die zweite USA-Tournee mit rund 40 Konzerten, die erst am 12. September in Honolulu auf Hawaii endete. Und zum Jahresende folgte gleich die nächste Tour mit Auftritten in fünfzig amerikanischen Städten. Begleitet wurden die Jackson5 bei ihrem Wanderleben von ihrer mütterlichen Hauslehrerin Rose Fine, die sich alle Mühe gab, die Lücken im Lehrpensum der Jungen nicht allzu groß werden zu lassen. Ihr oblag auch die religiöse Unterweisung des jungen Stars, an der Michael - der als einziger Bruder seine Mutter und die älteren Schwestern zu den sonntäglichen Versammlungen der Zeugen Jehovas zu begleiten pflegte - großen Anteil nahm. Berry Gordy hatte immer darauf geachtet, daß seine jugendlichen Künstler nicht ihre Allgemeinbildung vernachlässigten - denn wie lange so eine Karriere im Show-geschäft dauert, weiß keiner im voraus... Als er 1960 den gerade zehnjährigen Stevie Wonder unter Vertrag nahm, verpflichtete sich Motown, dem früh erblindeten Jungen eine angemessene Schulbildung an der Michigan High School for the Blind zu ermöglichen, wo Stevie 1969 seinen Abschluß machte. Doch das Tutoren-Regime für Michael Jackson war nur ein Notbehelf. Der kluge, bis heute unstillbar neugierige Junge, der immer alles wissen will, kam intellektuell nicht auf seine Kosten. Noch jetzt leidet Michael Jackson unter dem Gefühl, nicht genügend gelernt zu haben, und verschlingt jedes Buch, das ihm in die Finger fällt - vielleicht etwas wahllos. Als er während der Bad-Tournee im Herbst 1988 zum erstenmal in Berlin war, ließ er sich dort am Vorabend des Konzerts für mehrere Stunden in der größten Buchhandlung am Platz einschließen - und wühlte selbstvergessen in den zehntausenden Bänden, deren Sprache er nicht verstand.  

Was Michael während dieser zweiten Wanderzeit am meisten belastete, waren denn auch nicht Stress und sogenannte Reizüberflutung, sondern im Gegenteil - die bleierne Langeweile. „Uns ging es vor allem darum, die Langeweile zu bekämpfen, die uns heimsuchte, wenn wir zu lange auf Tournee waren. Da waren wir also eingesperrt in diese Hotelzimmer, weil wir wegen der Horden kreischender Mädchen nicht auf die Straße gehen konnten, und wir wollten doch unsern Spaß haben.“ Zwar erzählten die Brüder den Reportern, die es gerne hörten, das Leben auf Tournee sei „der lebendigste Geographieunterricht, den man sich wünschen kann“. Doch das war ein bei Motown einstudierter Spruch. In Wirklichkeit bekamen sie die Städte, durch die sie kamen, gar nicht zu sehen. Überall in den Straßen und vor den Hotels lauerten Tausende aufgeregter Fans, um einen Blick  zu erhaschen oder sie womöglich einmal anfassen zu können, und das war - auch ohne Bombendrohung - gerade gefährlich genug. Wie leicht konnte es zu einer Panik und zu einem Unfall kommen! Tatsächlich mußte im November 1970 ein geplanter Auftritt in Buffalo, N.Y. abgesagt werden, weil kurz zuvor in einem Stadion ein Mädchen zu Tode gekommen war - die entsetzten Eltern wollten ihre Kinder nicht mehr ins Konzert lassen.

Für die zweite Tournee im Sommer '71 war daher ein ehemaliger Polizeibeamter als Sicherheitschef der Jackson5 angeheuert worden, Bill Bray, der noch bis 1995 diese Arbeit fr Michael Jackson machen sollte. Für den Alltag der Jungen bedeutete das: Stunde um Stunde in Hotelzimmern hocken, die überall gleich aussehen und mit denen man doch nicht vertraut wird. Wie schlägt man unter solchen Umständen die Zeit tot? Kartenspiele, Monopoly, Kissenschlachten, Wettrennen durch die Korridore, wassergefüllte Luftballons, die auf die andern Gäste niedergehen, Lausbubenstreiche gegen die paar Leute, die zur Hand sind: Hotelpersonal, Begleitmusiker und... wer noch ? Viele sind es nicht. Sie finden es auch nicht komisch, wenn zum xten Mal ein Wassereimer von der Türkante fällt. Lionel Richie, der damals mit seinen Commodores im Vorprogramm der Jackson 5 auftreten durfte, erzählt, wie sie ihre Schuhe, die sie über Nacht zum Putzen vor die Tür gestellt hatten, des Morgens mit Eiswürfeln angefüllt fanden... Zwar wird Michael auch auf diesem Gebiet als sehr erfindungsreich geschildert, doch noch der ausgefallenste Streich hat ein Aroma von schonmal-dagewesen, wenn - sonst den ganzen Tag nichts passiert.

Aber doch, es passiert ja was - abends: das Konzert! Die Show! Zehntausende begeisterter Menschen, die gar nicht genug bekommen können, wenn die fünf Brüder singen und tanzen, was das Zeug hält, immer bis hart an die Grenze ihrer jugendlichen Kraft. Nie war es dem kleinen Michael deutlicher gewesen: Das wahre Leben, das ist die Bühne, das ist der Auftritt. Der Rest ist nur Vorbereitung, Warten, Pause.

Man sieht es ihm an auf den Fernsehaufzeichnungen, die anläßlich jedes Michael-Jackson-Specials immer wieder mal gezeigt werden. Das eindrucksvollste: Who's Lovin' You, ein Stück von Smokie Robinson, das die Brüder zu ihrem Einstand bei Ed Sullivans Show im Dezember 1969 dargeboten hatten - jene Nummer, wo Michael den großen rosa Hut trägt. Er legt allen Ausdruck in sein Lied, in seine Mimik, in die Gesten, er geht völlig darin auf, „als hätte er das alles selber erlebt“, wie Gordy sagte. Doch da - zwischen zwei Drehungen, kaum wahrnehmbar, ein kurzer, prüfender Blick in den Saal, ob ihm das Publikum wohl noch folgt; wie ein uralter Profi! Und schon versinkt er wieder in seinem Lied... Wir Europäer entdecken Little Michaels Kinderkarriere im nachhinein, aus der Sicht von Thriller, Bad und Dangerous. Uns hatte jene einmalige Verbindung von ausgebufftem Professionalismus mit ungebrochen kindlicher Expressivität fasziniert, und bei diesen alten Aufnahmen sehen wir - damals war er auch schon so, schon „ganz der Alte“! Doch nach kurzem Staunen fragt man sich: Worüber soll man sich mehr wundern? Daß er bereits als Kind so war - oder daß er als Erwachsener immer noch so ist?

Als Erwachsener - ist das bei Michael Jackson überhaupt ein passendes Wort? - Diese Frage ist vielleicht die Antwort auf die vorangegangene! Schließlich identifiziert sich der erwachsene Jacko demonstrativ mit Peter Pan, dem Jungen, der nie erwachsen wurde, weil er - nicht wollte. Wie es mit dem kleinen Michael so weit kam, wollen wir in diesem Buch erzählen.

Also zurück zu unserer Geschichte. Es ist eine merkwürdige Erscheinung im Showgeschäft, daß der Erfolg eines Künstlers beim Konzertpublikum nicht unbedingt mit dem Verkaufserfolg seiner Schallplatten zusammenhängt. Die Jacksonmania kochte erst 1972 und '73 ihrem Höhepunkt entgegen. Jede neue Tournee wurde länger und größer als die vorige. Im Oktober '72 starten sie zu ihrer ersten Auslandstournee. Nach Europa, nachdem sie bei Motowns großer England-Kampagne im Jahr 1970 noch nicht mitgedurft hatten - wegen der dortigen Schutzbestimmungen gegen Kinderarbeit, die dem noch nicht ganz zwölfjährigen Michael das Auftreten unmöglich machten. Nun brachen sie im Liverpool Empire den Zuschauerrekord, den dort die Beatles gehalten hatten, und trugen die Jacksonmania zu den Briten. Die Szenen, die sich auf ihren Konzerten abspielten, waren des Aufruhrs um die Fabulous Four würdig. Doch ihr dortiger Plattenumsatz kam nicht entfernt an die heimischen Rekorde heran.

Daheim im März 1971 war die Single Never Can Say Goodbye noch auf Platz zwei der Pop-Charts gekommen. Aber ihr viertes Album Maybe Tomorrow, das im April folgte, schaffte es nicht mehr in die Top Ten der Pop-Charts, und blieb auf dem elften Platz hängen - nachdem die ersten drei Alben bis auf Platz vier und fünf vorgedrungen waren; und die Single-Auskoppelung des Titelsongs schaffte es gar nur noch auf Platz 20. In den Black Charts kam das Album zwar auf den ersten Platz - aber das war auch nicht unbedenklich! Sollten die Jackson5 etwa ihr Crossover-Image einbüßen und zu einer „schwarzen“ Gruppe werden? Für das Plattengeschäft mußte sich Motown nun etwas einfallen lassen. Und was lag näher, als den wahren Star der Gruppe, der Dreiviertel ihres Erfolgs eingefahren hatte, nun als Solisten auf dem Markt zu etablieren! Cute little Michael, der „süße“ kleine Michael brach noch immer spielend die Herzen aller erdenklichen Farbschattierungen. Dann würde man weitersehen.

Little Michaels Stundenplan wurde um ein neues Pensum bereichert. Noch heute versichert er ja: Er tat damals wirklich nichts lieber als singen und tanzen! „Ich tat es, weil es mir Spaß machte und weil es für mich so natürlich war wie das Atmen.“ Daß er dabei aber so manches versäumt hat, sollte ihm erst später klarwerden. Am 7. Oktober 1971 erscheint die erste Schallplatte, auf der Michael allein, ohne seine Brder zu hören ist: Got To Be There, eine sogenannte Semi-Ballade, also ein nicht-ganz-so-langsames Stück, das thematisch an den Superhit I'll Be There anknpft und schon nach zwei Wochen auf Platz vier der Charts klettert - Pop und Black, wie gewünscht! Gordys Rechnung ging auf: Die im Oktober folgende nächste Single der Jackson 5 (Sugar Daddy) kam immerhin wieder auf Platz zehn der Pop-Charts (aber Platz drei auf „Black“). Im Januar folgt Michaels erstes Solo-Album, Got To Be There wird als Titelsong gewählt, das Album erreicht wohl in den Black Charts wieder den dritten Platz, doch auf der Pop-Liste nur Platz 14. Die zweite Single-Auskoppelung Rockin' Robin, das Remake eines Rock'n'Roll-Hits von 1958, sorgt endlich für Erleichterung bei Motown - sie kommt in beiden Charts auf den zweiten Platz ! (Sogar in England schafft sie Platz drei.)

Übrigens enthält das Album auch das erste Exemplar einer neuen Liedgattung, die später eine Spezialität des King of Pop werden soll - die „Kinderhymne“ In Our Small Way:

Maybe you and I can't
Do great things.
We cannot change
The world in one day.
But we still can change some things today
In our small way.

Seine Solo-Karriere ist nun auf guten Wegen, und die J5 profitieren davon: Ihre nächste LP Looking Through The Window bringt es in den Pop-Charts nun auch wieder auf Platz sieben.

Musikalisch unterscheiden sich Michaels Platten von dem, was er bei den J5 gemacht hatte. Um den Wohlklang seiner ‚rührenden‘ Stimme voll zur Geltung zu bringen, läßt man ihn nun vorzugsweise langsamere Stücke singen, „Balladen“ - das Wort hat im Pop-Jargon nur diesen Sinn und hat nichts mit dem gemein, was unser Deutschlehrer darunter verstand. Dabei kommen nun auch verstärkt Melodieinstrumente zum Einsatz, liebliche Flöten, mal schmeichelnde, mal schluchzende Geigen, strahlendes Blech, tändelnde Keyboards: Es soll eben „schön“ sein - und weißes Publikum an die Kassen locken. Allerdings klingt es (vielleicht nur auf den digital remasterten CDs dieser Tage?) oft so, als habe man Michael um des Effekts willen höher und - lauter singen lassen, als es zu seiner Stimme paßte. Freilich, laut und schnell - das war damals auch sein eigener Geschmack. „Ich liebe schnelle Musik, das, was James Brown und Sammy Davis machen“, sagt der Dreizehnjährige einem Fernsehreporter. Vielleicht war das, was wir da heute noch hören, ein Kompromiß zwischen der Hitfabrik und den Vorlieben ihres kleinen Stars. Zwar hat es Michael stets gewurmt, daß er bei Motown nichts zu sagen hatte; aber Berry Gordy war zu sehr Geschäftsmann, um nicht zu wissen, daß man sein Kapital pfleglich behandelt. Michaels Stimme war schließlich einmalig. „Er konnte so niedergeschlagen und bluesy singen wie Tyrone Davis oder Joe Tex“, erinnert sich sein Produzent Bobby Taylor, „aber er hatte auch die gepfefferte Energie eines Schulbuben. Oh Mann, ich mußte kein Einstein sein, um zu entdecken, daß der Junge ein bombensicheres Genie war.“ David Ritz, Biograph etlicher R&B-Größen, kommentiert rückblickend: „Michael klang zugleich jung und alt, naiv und weise, schüchtern und festentschlossen, wie ein Schnittpunkt von gereiften und von jugendlichen Energien. Von Anfang an hatte er alle Qualitäten, die den großen Sänger ausmachen - eindringliche Leidenschaft, individuelle Phrasierung, unverwechselbaren Ausdruck, einen wachen Sinn für Harmonie, außerordentliche Empfindsamkeit. Er sang schmetternd wie Stevie Wonde ; seine Stimme konnte im Raum gleiten wie die von Smokey Robinson; er sang Pop-Balladen so wunderschön wie Marvin Gaye. 
Vielseitigkeit war seine Stärke, aber dabei blieb Michael immer Michael, hoffnungsfroh, funky, geschmackssicher und intensiv, daß es einem über den Verstand geht.“

Sein eigentlicher Durchbruch als Solist gelang Michael Jackson aber - sozusagen wegweisend - mit einem Kuriosum: dem einzigen Liebeslied an eine Ratte, das wohl je gesungen wurde. Es ist auch Michaels erste Begegnung mit dem Kino. Immer war es sein Traum, ein großer Filmstar zu werden (damals recht kühn für einen Farbigen). Nun sang er immerhin schon einen Titelsong: Ben war die Fortsetzung des Films Willard, der im Vorjahr die Kassen gefüllt hatte, und handelte wieder von einem leicht verschrobenen Jungen, der keinen Freund hatte - außer eben dieser Ratte namens Ben. Michael sang, als ginge es um die Liebe seines Lebens. (Und endlich ließen sie ihn in seiner natürlichen Alt-Lage singen.) Immer wieder lief er ins Kino, um im Abspann zu lesen: „Titelsong BEN gesungen von MICHAEL JACKSON“! Bis heute nennt er Ben als sein Lieblingslied...

Ben, most people would turn you away.
I don't listen to a word they say.
They don't see you as I do.
I wished they would try to.
I'm sure they'd think again,
if they had a friend like Ben.

Es war der erste Number-One-Hit in Michaels Solokarriere (Juli 1972). Wenn Berry Gordy sich fragte, woher der Schmerz und die Ausdruckskraft in Michaels Stimme kommt - bei diesem Lied hätte es ihm einfallen können. Michael war selbst das Kind, das keine Freunde hatte. Sicher, da waren die Brüder, die andern Jackson5. Die waren immer da. Immer. Er war nie allein. Kein Winkel, in den er sich zurückziehen konnte. Aber das verhindert nicht die Einsamkeit, im Gegenteil. Es hindert einen, sich zu sammeln - und das fehlt dann wieder zur Freundschaft. Zwar bestätigt auch Jermaine das besondere Verhältnis, das er gerade in dieser Zeit zu seinem kleinen Bruder hatte. Die Stimmen der Lead-Sänger brauchten Schonung, und so mußten sie beide zeitig ins Bett. Sie schliefen immer im selben Zimmer, auch zuhaus in Encino. Aber da gab es keine Privatheit. Beide erzählen, wie sie auf Tournee gelegentlich nachts wachwurden, wenn Vater Joe mit ein paar Mädchen unterm Arm ins Hotelzimmer kam, um ihnen die schlummernden Teenie-Stars zu zeigen... Aber ohne Privatheit gibt es auch keine Intimität. Einer, der „schon immer da“ war, der einem von vornherein zu nahe stand, taugt nicht mehr zum Freund. Einem, der sowieso immer alles weiß, vertraut man kein Geheimnis an - wußte er es denn zu schätzen? Freundschaft, wie die Liebe, geht am Zu-viel-wissen ein. Wie eng das Verhältnis der Jackson-Brüder zueinander gewesen sein mag - die fehlenden Freunde konnten sie sich nicht ersetzen: „Ich hab so oft geweint vor Einsamkeit.“

Keinen Freund haben heißt aber auch: kein Freund sein. Und das ist wohl das schlimmste, was einem als Kind passieren kann. Ich wage zu sagen, schlimmer auch als Joe Jacksons Grausamkeit. Wenn nicht alles täuscht, liegt hier der Schlüssel zur größten Künstlerkarriere des Jahrhunderts, einschließlich ihrer tragischen Verwicklung; denn das ist etwas, das sich schlechthin nicht wieder gutmachen läßt.

Da heißt es immer, die Mutterliebe sei die Schule der Liebesfähigkeit. Aber das ist gar nicht wahr. Die Mutterliebe ist, wenn sie da ist, unvordenkliche Nähe. Das ist ihr Verdienst und macht sie unersetzlich. Die wirkliche Liebe ist aber ein Spiel mit dem Feuer. Die Vaterliebe kommt dem schon näher, aber nicht viel. Das erste große Abenteuer ist die erste große Freundschaft - der „beste Freund“. Der war nicht einfach da, den mußte man finden; und den wird man verlieren. Die wahre Schule der Liebe ist die Kinderfreundschaft. Sie ist die erste Leidenschaft. Doch gottlob, sie geht vorüber - wenn sie stattfinden durfte; und gibt den Weg frei zu allen andern Wagnissen des Herzens.

Und wenn nicht? Der kleine Michael hat nie einen Freund gehabt. Als ein Reporter ihn auf die Intensität anspricht, mit der er Ben gesungen habe, antwortet der Zwölfjährige arglos: „Ich habe selber eine Ratte!“

Besser als gar nichts, aber wenn Michael Jackson seit Jahren immer entschiedener seine verlorene Kindheit zum Thema seines Lebens macht, dann meint er eigentlich den Freund, den er nicht hatte.

Hätte er nicht später doch das eine oder andere nachholen können? Aber nicht als Berühmtheit, und schon gar nicht in Hollywood. „Als Entertainer weißt du nie, wer dein Freund ist“, sagt der erwachsene Megastar, und spricht damit - für uns - eigentlich eine Binsenwahrheit aus. Aber für ihn selber, der nichts zum Zusetzen hat, ist es eine Tragödie. 

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