Samstag, 7. Mai 2016

9. The Jackson Chase

oder
Der Fall, der keiner wurde

With a child's heart, nothing's
got to get me down.
Music & Me (1973)
...but I loved it 'cause it's
dangerous.
Dangerous (1991)

Seit Thriller war Michael Jacksons Verhältnis zu den Medien problematisch. Hätte ein Namenloser die bestverkaufte Schallplatte aller Zeiten gemacht, die Sensation wäre nicht größer, sondern geringer ausgefallen. Anderthalb Jahrzehnte lang hatte Michael Jackson zum lebenden Inventar der Branche gehört. Das allein war schon bemerkenswert. Den Erfolg von Off The Wall hatte man ihm gar nicht mehr zugetraut. Und dann krönte ihn Thriller noch zum King of Pop! Wie von selbst drängte sich die Frage auf: Wie lange wird er sich diesmal halten? Zuerst ganz ohne Häme, aber dann, je länger es dauerte, mit wachsender Ungeduld. Man fing an, nach einem Thronerben Ausschau zu halten. Der Erfolg des Künstlers, der damals als Prince bekannt war, stammt auch daher.

Und während eben noch die Bad-Tournee neue Publikumsrekorde feierte, war in der Berichterstattung der Medien längst ein gehässiger Tonfall zur Selbstverständlichkeit geworden.

Besonders gespannt war sein Verhältnis zur musikalischen Fachpresse. Zur „weißen“ Musik gehört seit drei Jahrhunderten eine professionelle Kritik, die ihre Maßstäbe aus der akademischen Musikwissenschaft holt und sich am Geschmack eines seit Generationen spezialisierten Publikums orientieren kann. Die „schwarze“ Musik, aus dem die zeitgenössische Unterhaltungskunst im Wesentlichen stammt, hat nichts dergleichen. Sie ist nicht ‚diskursiv’, und darüber lässt sich wenig Gescheites schreiben. Am ehesten taugt noch die Rock-Musik im engeren Sinn zur Schriftform. Weniger wegen der musikalischen Substanz als wegen der ideologischen Geste. In den Redaktionen der einschlägigen Fachblätter geben folglich die Alt-Rocker der 68er Jahrgangs den Ton an. Die mochten Michael Jackson nie besonders. Und wenn das Publikum Jahr für Jahr immer denselben bejubelt, muss die Kritik daran erinnern, dass sie auch noch da ist.

Nach Thriller wurde jedes neue Jackson-Stück von der Fachpresse mit spitzen Lippen und gerümpfter Nase begrüßt. Immerhin, der Branchenführer Rolling Stone hatte beim Erscheinen von Bad anerkennend gebrummt, Jackson beweise wiedermal, „dass er jederzeit jeden andern ausfunken kann“. Doch die andern nahmen es weniger genau. Jackson bashing war zum Nachweis eines gediegenen Geschmacks geworden.

Hype, die kultische Form der Reklame, stammt aus dem industriellen Anteil der Unterhaltungskunst. Sie gilt als Beweis der nichtkünstlerischen Natur des Showbusiness. Doch ist sie ist auch Performance. Man kann sie selbst zu einer Kunstform ausbauen. Auch da war Michael Jackson Pionier. Als erster entwickelte er Image building zu einem System.

Nichts kitzelt die Phantasie eines blasierten Publikums so wie das Geschlechtsleben seiner Prominenten. Der [damalige]Präsident der Vereinigten Staaten kann davon erzählen. Aber er ist nur beiläufig Entertainer. Er muss nicht kitzeln. Michael Jackson ist Entertainer mit Haut und Haaren. Der muss, denn davon lebt er.

Und nirgends sind Zweideutigkeit und Flou artistique so ersprießlich wie im Reiche des Erotischen. Hier ist Michael Jackson in seinem Element. Mit den wüsten Tanzvideos The Way You Make Me Feel und Dirty Diana aus dem Bad-Album nutzte er seine Chance. Zwar beschränkte er sich auf gestische Anspielungen, aber die waren eindeutig, das heißt unanständig. Noch nie hatte man den sanften Jungen so „sexy“ gesehen. Natürlich legte die provozierend herausgestellte und zugleich verleugnete Männlichkeit eine transsexuelle, „androgyne“ Deutung nahe - zumal es sich um ein klassisches Thema der schwarzen Unterhaltungskunst handelt. Unvergessen bleibt das aggressiv tuntenhafte Gebaren von Little Richard, aber es war nur der Gipfel einer langen Tradition. So setzte etwa James Browns Manager Ben Bart Anfang der Sechziger, als im weißen Amerika Homosexualität noch ein Tabu war, das Gerücht von der bevorstehenden Geschlechtsumwandlung des Godfather of Soul in Umlauf - er wolle seinen Keyboarder Bobby Byrd heiraten! Das galt als werbewirksam. Und noch heute bevorzugt der Künstler, der früher als Prince bekannt war, das Gehabe eines Strichjungen im Rokoko-Kostüm. Dass ausgerechnet Michael Jackson von solchen Interpretationen verschont würde, war nicht zu erwarten. Er wolle den Sänger Clifton Davis ehelichen und sich operieren lassen! Natür-lich hatte er damals heftig dementiert - um sogleich selber ein paar Fragezeichen hinzuzufügen.

Da war zunächst das anzügliche Human Nature von der Gruppe Toto auf dem Thriller-Album:

If they say :
Why? Why -
Tell 'em that it's human nature.
Why? Why - does he do me this way?
I like livin' this way.
I like lovin' this way.

Und es folgte der Hit Muscles, den Michael für Diana Ross geschrieben hatte. Mit laszivem Keuchen besingt sie Stärke und Schönheit des männlichen Körpers, I want muscles, ich will Muskeln! Und was ist dabei? Es ist schließlich eine Frau, die das singt! Na ja. Würden man nur nicht im Background Michaels unverwechselbare Stimme mitstöhnen hören: Muscles!

Doch solche Geschichten halten sich nur, wenn man irgendwann Namen nennt. An Aspiranten wird es nicht gefehlt haben, auch Andy Warhol und Leonard Bernstein waren im Gespräch. Aber Erfolge konnte keiner melden, und schließlich versickerte das Gerücht. Man einigte sich stillschweigend auf die Annahme, Michael Jackson habe gar keinen Sex.

Ab einem bestimmten Punkt gehört eine schleichende Verunglimpfungskampagne, eine Art „Anti-Hype“, zum Ruhm dazu wie zum Reichtum der Neid. Von der Callas hieß es schon früh : Sie verliert ihre Stimme! Solange, bis es wahr wurde - zehn Jahre danach. Pavarotti kennt das auch schon. Doch Michael Jackson ist ein hundertprozentiger Profi. Er überlässt nichts dem Zufall und ging einen Schritt weiter. Er machte auch seine Anti-Hype noch selber.

Schlechte Publicity gibt es nicht, sagt ein Sprichwort aus Hollywood. Der Maler und Showman Salvador Dalí echote: „Solln doch die Leute über mich reden, was sie wollen. Vorausgesetzt, es ist viel.“ Ach, es ist alles eine Frage der Dosierung. Ständige Übertreibung wirkt auf die Dauer nicht bizarr, sondern lächerlich, und Lächerlichkeit tötet. Michael Jackson stand im Begriff, sich vom Megastar - das Wort wurde für ihn erfunden - zur Witzfigur abzuwerten. Die Sauerstoffkammer, die angeblichen Operationen, der Schrein für Liz Taylor, die Knochen des Elefantenmanns, und selbst die Geschichte, dass er sich für die nächsten fünfzig Jahre einfrieren lassen wolle, um jung und frisch im neuen Jahrtausend aufzutauen... Die Fans lasten die Schuld an all dem Klatsch gern seinem Manager Frank Dileo an. Aber es ist unwahrscheinlich, dass Michael Jackson ausgerechnet auf einem so heiklen Feld die Federführung je an ein andern abgegeben hat. Vielmehr hat er feste mitgemacht.

So war er lange Zeit in der Öffentlichkeit nur in Begleitung seines Schimpansen Bubbles gesehen worden, den er von Hollywoods Hofschranzen umwuseln ließ, wie weiland Wilhelm Hauff seinen Jungen Engländer. Michael Jackson ist verrückt nach Kindermärchen; sollte er gerade dieses nicht gekannt haben? Es wird ihm aber auch ein kaustischer Humor nachgesagt, und es ist nicht sicher, wer da über wen gelacht hat. Doch wie dem auch sei: Am Ende kam er dem breiten Publikum weniger mysteriös als albern vor. Die englische TV-Satire Spitting Image brachte dem armen wacko Jacko wenigstens Mitgefühl entgegen: „I'm bad. - I'm sad. - (zum Doktor :) I'm mad.“ Andere waren nicht so zartfühlend.

Ein unerschöpfliches Thema ist sein Gesicht. Auf dem Video Smooth Criminal waren deutliche Narben zu erkennen. Beweis für immer und immer neue Operationen! Dabei waren es dieselben Akne-Narben, die man schon Jahre zuvor in She's Out Of My Life sehen konnte, als seine Nase noch klobig und die Haut noch dunkel war. Aber Michael Jackson tut alles, um die Gerüchte am Kochen zu halten. Seit Jahren geht er kaum noch ohne seinen Mundschutz unter die Leute. Um die langsam zerbröckelnde Nase zu verstecken! Nein, weil er eine manische Furcht vor Mikroben hat, er leidet unter einem Hygienewahn! (Die ältere Schwester beschreibt dagegen sein Verhältnis zu Ordnung und Sauberkeit als ein ungebrochen kindliches.) Er selbst erzählt, er sei ihm mal nach einer Kieferbehandlung verordnet worden und habe ihm gefallen, weil er ihn, wie die obligate Sonnenbrille, vor den zudringlichen Blicken der Gaffer schützt. Prosaischere Geister haben freilich bemerkt, dass ‚richtige’ Fotos von Michael Jackson seither ausgesprochen rar geworden sind. Und entsprechend teuer.

Gern redet der Laie auch über medizinische Dinge. Gesundheitsprobleme machen einen Popmusiker selbst noch für Frauenjournale verwertbar. Beschwerden am Brustkorb brachten Michael Jackson, wie erwähnt, wiederholt ins Krankenhaus. Fast immer war auch Überarbeitung im Spiel, und das heißt: „die Nerven“. Na, hatten wir's doch gewusst! Und wie er sich ernährt! Magersucht, Anexoria nervosa, was denn sonst...

Nein, maßloses Geschwätz banalisiert den Star: „Der schon wieder!“ Familiarity breeds contempt. Wenn es soweit kommt, dass die Redakteure sich schnell mal eine Meldung über Michael Jackson selber ausdenken, um die Seite vollzukriegen; wenn er zum allfälligen Lückenbüßer wird, sobald es nichts besseres zu berichten gibt - dann ist das zu viel. Der Vergleich mit Goethes Zauberlehrling liegt nahe, aber er erhellt nichts. Ohne das wär es nicht gegangen. Das macht eben Image-Building zu einer Kunstform: dass es nie fertig wird. Der Ausgang bleibt immer offen.

So viel kann man gar nicht dementieren, kann man gar nicht prozessieren. Man kann sich der Presse nicht erwehren, indem man an die Presse appelliert. Dem Klatsch darf man nicht hinterherlaufen, man holt ihn doch nicht ein. Man muss ihm von vorn begegnen, man muss ihm zuvorkommen. Man muss „positiv“ werden. Im April '88 landete Michael Jackson einen Scoop, an dem er vier Jahre lang gebastelt hatte. Jacqueline Kennedy-Onassis, mit der er befreundet war, wollte im Verlag Doubleday Michaels Autobiographie herausgeben. Die Ghostwriter waren emsig, doch mal war es Michael zu pikant, was da zustande kam, mal war es dem Verlag zu fad. Die mittlere Linie, auf die man sich schließlich einigte, hat sich bewährt: Bis heute hat keiner der späteren Biographen Moonwalk zerpflücken können. Gewollt hätte mancher, doch stattdessen schöpfen wir alle aus dieser Quelle.

Es ist keine selbstquälerische Nabelschau, aber auch keine Heiligenlegende. In groben Zügen erfährt man schon, mit wem man es zu tun hat. Es wird alles angesprochen, auch das heikle Familienleben der Jacksons. Aber es wird nicht alles ausgesprochen. Manches muss man sich dazudenken. Das ist nicht der Größte Star aller Zeiten, der aus diesen Seiten strahlt. Von seinen vielen Gesichtern bevorzugt er hier den strebsamen Jungen, der für seinen Erfolg hart gearbeitet hat und dabei mit beiden Beinen auf dem Teppich bleibt. Nicht ganz alltäglich Lebensumstä„nde, nun ja. Aber im Grunde einer von uns...

Moonwalk wird ein Bestseller, gewiss. Doch den Ozean von Klatsch und Tratsch kann es nicht eindämmen. Das soll es auch gar nicht. Es soll der stets wachsenden Gemeinde der Fans einen Orientierungspunkt setzen. Es soll sie rechtfertigen. Dann nämlich können auch die wildesten Gerüchte wieder nützen - weil die Empörung darüber die Gemeinde zusammenschweißt.

Zu Weihnachten 1988 erfüllte sich endlich Michaels Kindheitstraum. Er hatte seinen eigenen abendfüllenden Spielfilm! Moonwalker kam in die europäischen Kinosäle. In England und Frankreich standen die Leute Schlange. Aber die Kritiken waren verheerend. Eine Springflut von Special effects nach dem letzten Stand der Technik - nur, um Michael Jacksons maßloses Ego zur Geltung zu bringen! Die Story sei dürftig, und vor allem Michaels mimische Leistung wurde verrissen - selbst Freund Bubbles sei begabter. (Tatsächlich wirkt er hier merkwürdig hölzern - wo er lediglich den Michael spielen soll, ohne sich ironisch zum Jacko verdoppeln zu dürfen. Er muss erst ein Anderer werden, um „er selbst“ zu sein.)

Tatsächlich erzählt Moonwalker keine richtige Geschichte. Im ersten Teil ein kaleidoskopischer Gang durch Michaels Karriere, dann - nach dem programmatischen Trick-Video Leave Me alone, Lasst mich in Ruh! - eine rasante Flucht vor dem Drogenboss Frankie Lideo (sic), der hinter „den Kindern“ her ist. Mehr eine Mythe als eine Handlung. Und dazwischen das phantastische Tanzvideo Smooth Criminal - das allein schon den ganzen Film wert ist. Und natürlich nimmt alles ein gutes Ende...

War es wegen der schlechten Kritik? Jedenfalls entschied Frank Dileo, den Film in Amerika nicht in die Kinos zu bringen. Dort wurde er nur als Videokassette zum Kauf angeboten. Zwar verdrängte er alsbald The Making Of Thriller als meistverkauftes Musikvideo aller Zeiten auf den zweiten Platz. Aber Michael war mit seinem Manager unzufrieden.

Als er am 24. 1. 1989 in Los Angeles, nach insgesamt 123 Konzerten, die Bad-Tournee abschloss, verkündete Frank Dileo, dies sei Michaels letzte Tournee gewesen. Eine weitere werde es nicht geben. Er ahnte nicht, dass es seine letzte Amtshandlung war. Am 14. Februar gab Michaels Pressesprecher Lee Solters die „einvernehmliche Trennung“ von seinem Manager bekannt.

Michael Jacksons beinhartes Geschäftsgebaren gehört zu seinen weniger reizenden Zügen. Doch geht es auch seinen Partnern nicht um Zärtlichkeit, sondern ums Geld. Namentlich seine Art des Heuerns und Feuerns von Mitarbeitern hat Befremden erregt. Er sei undankbar. Mancher Getreue fiel aus allen Wolken, als er eines schönen Morgens einen Brief in den Händen hielt, wo ihm der Meister mit drei freundlichen Zeilen für die geleisteten Dienste dankt. Außer seinem Sicherheitschef Bill Bray, der schon die Jackson 5 gehütet und sich erst im vergangenen Jahr zur Ruhe gesetzt hat, und Lee Solters ist kaum einer länger als fünf Jahre in seinen Diensten geblieben. So als sei ihm zu große Vertrautheit nicht geheuer. Was auch im einzelnen jeweils den Ausschlag gab - immer ist im Hintergrund Jacksons Scheu, sich in Abhängigkeit zu begeben, geschäftlich wie privat. Das ist anscheinend das ‚Familienthema’ bei den Jacksons. Als seine jüngste Schwester Janet 1988 ihre eigene Karriere begann, nannte sie ihr Debütalbum Control. Und damit auch jeder merkt, wie's gemeint ist, zeigt das Video zum Titelsong, wie sie türeknallend das... Haus ihrer Eltern verlässt. Joe Jackson mischt im Geiste immer noch mit.

Weder Michael Jackson noch Frank Dileo haben sich zu den Gründen ihrer Trennung geoßert. So ganz endgültig ist sie ja vielleicht auch nicht. Heute ist Dileo jedenfalls der Manager der Gruppe 3T, die von niemand anders als von Michaels Neffen Taj, Taryll und T. J. gebildet wird. Ihre Platten erscheinen bei MJJ Music - Michaels eigenem Label bei Sony.

Doch Michael selber hat sich seither keinen Manager mehr genommen. Er hat Berater, aber er entscheidet alles selbst. Control! 

Nach Abschluss der Bad-Tour zog sich Michael Jackson wieder aus der Öffentlichkeit zurück - wie gehabt. Nein, nicht ganz. Auf seiner Ranch hatte er sein eigenes Reich gefunden, wo er Hof halten und seine Freunde empfangen konnte. Kinder, viele Kinder; die meisten aus den Slums von L.A. Diese Leidenschaft hatte er inzwischen weltweit publik gemacht. Der blonde zwölfjährige Jimmy Safechuck, mit dem er seit den Dreharbeiten zu einem Pepsi-Spot befreundet war, hatte ihn auf der ganzen Tournee begleitet. Im Jacko-Look gekleidet, wurde er überall, wo Fans jubelten, in den Vordergrund geschoben und wie der „eigentliche“ Star gefeiert.

Nun baute Michael seinen Privatzoo und den Rummelplatz auf Neverland aus, richtete einen Kinosaal her und ließ ihn mit ein paar Krankenbetten für sieche Kinder ausstatten. Wirklich allein war er nur noch selten.

Ab und zu ließ er sich auch im Blitzlichtgewitter sehen. Die Reporter waren gereizt genug, ein bisschen was musste er ihnen anbieten. Ein paarmal wurde er in Begleitung von Madonna gesichtet. Sie sollen gemeinsame Pläne geschmiedet haben. Beruflich, versteht sich. Und gelegentlich erschien er sogar bei den Festlichkeiten der Branche, wo die Trophäen verliehen werden. Viele nahm er persönlich entgegen, nicht nur per Videoband. Einige überreichte er anderen. Aber er blieb immer wortkarg. I thank you so much und I love you all war meist alles, was er über die Lippen brachte.

Bei einer Sorte von Auszeichnung aber fehlte er nie, und er bekam sie jetzt immer öfter. Das waren die Medaillen für seinen Einsatz zugunsten notleidender und benachteiligter Kinder. Gesundheits-, Bildungs- und Anti-Drogen-Programme, das war sein Feld. So wurde ihm etwa vom Capital Children's Museum im September '89 der Best of Washington Humanitarian Award verliehen, ein Jahr darauf erhielt er als erster den eigens für ihn gestifteten Michael Jackson Good Scout Humanitarian Award von der Pfadfinderschaft von Los Angeles. Am 5. April '90 schließlich wurde er sogar von George Bush im Weißen Haus empfangen und ausgezeichnet (und am 1. Mai '92 ein zweites Mal).

Nur eine Woche später muss er aus einem bedrückenden Anlass erneut in der Öffentlichkeit erscheinen. Sonst meidet er Friedhöfe. Doch am 8. April war Ryan White nach langem Kampf mit nur achtzehn Jahren seinem Leiden erlegen. Gemeinsam mit Barbara Bush und Elton John trug ihn Michael zu Grabe. Für ihn ist das Lied Gone Too Soon auf dem Dangerous-Album.

Künstlerisch machte Michael Jackson in diesen Jahren Pause. Scheinbar. Ende Juni '89 brachten The Jacksons (ohne Michael und Marlon) ein neues Album heraus namens 2300 Jackson Street - die Adresse ihres Geburtshauses in Gary. Es sei aber nicht verschwiegen, dass auch Michael im Titelsong zu hören und auf dem Video zu sehen ist. Und sie singen von Eintracht und Frieden und trautem Familienglück - nach allem, was das Publikum inzwischen von den Zuständen bei den Jacksons wusste...

Im November '89 war er noch bei der Feier zum 65. Geburtstag von Sammy Davis Jr. aufgetreten und hatte das nur für diese Gelegenheit geschriebene Lied You Were There gesungen. (Davis starb im folgenden Jahr.) Das blieb für eine lange Zeit seine einzige Performance. Allerdings war schon seit langem von einem neuen Album die Rede. Er arbeitete, wie üblich, wie ein Berserker. Aber fand, wie üblich, kein Ende. Die Fans mussten warten.

Und CBS auch. Michaels Plattenfirma hatte ihren eignen Grund, sich in Geduld zu fassen. Sein Vertrag lief aus, und man war nicht sicher, dass er ihn verlängern würde. Immerhin war er jetzt Herr der Lage, er konnte wählen. Und CBS hatte den Eigentümer gewechselt. CBS Music, um genau zu sein. Der Mutterkonzern hatte sich von seiner Musikabteilung getrennt. Sie gehörte jetzt, einschließlich Epic Records, zum japanischen Elektronik-Konzern Sony. Aber Michaels Verhältnis zu Walter Yetnikoff, dem Boss von CBS Music, hatte sich getrübt. Die Verhandlungen führte an dessen Stelle jetzt der Neuling Tommy Mottola. Michael diktierte seine Bedingungen, und was dabei am 20. März 1991 herauskam, ging als „der größte Deal der Musikgeschichte“ ins Guiness-Buch der Rekorde ein. Dort wurde der Gegenwert des Vertragsvolumens auf 890 Mio. $ geschätzt, aber andere rechneten mit mehr als einer Milliarde. Der Vertrag läuft über fünfzehn Jahre. Michael hatte sich den Ruf eines gnadenlosen Geschäftsmanns wenigstens nicht umsonst eingefangen. Im September nahm Yetnikoff seinen Abschied bei CBS. Er hatte einen engen Vertrauten: John Branca. Dessen Verhältnis zu Michael ging darüber in die Brüche. Und einen guten Anwalt würde Michael Jackson eines Tages noch brauchen.

Doch hatte er auch einen neuen Freund gefunden: Macauley Culkin, den engelblonden Kinderstar aus Kevin allein zuhaus. Ein weiterer Dauergast auf Neverland.

Am 14. November 1991 begann, nach der Thriller- und der Bad-Ära, endlich die Dangerous-Ära. Sie stand von Anbeginn unter einem bedrohlichen Stern. Gegen wachsende Antihype und unterm selbstgewählten Zwang zu immer neuen Rekorden trieb diese Karriere langsam, aber sicher auf einen Paroxysmus zu. Als ob er es spürte, tat sich Michael Jackson schwerer denn je. Immer wieder war das angekündigte neue Album verschoben worden. Die Kritik würde es sowieso verreißen. Ihre fehlenden ästhetischen Maßstäbe gleicht sie durch den ‚letzten Schrei’ aus. Doch das breite Publikum ist launisch, aber konservativ. Ein etablierter Star, der größte zumal, kann sich's leisten, die Kritik zu verprellen, aber nicht das Publikum.

Das erste Problem war schon, für das neue Album überhaupt Aufmerksamkeit zu schaffen. Gerade weil soviel davon geredet wurde. Denn langsam hörte keiner mehr richtig hin. Ein Knalleffekt war nötig.

Und der passierte an diesem 14. November. Das TV-Programm Top Of The Pops strahlte als ersten Titel des neuen Albums den Song Black Or White aus. Aber nicht das Lied war die Sensation. Zwar war es das erstemal, dass Michael Jackson sich zur Rassenfrage äußerte. Aber erwartungsgemäß in gemäßigtem Ton. Die Sensation war das Video. Gedreht unter der Leitung von John Landis, dem Thriller-Regisseur, zeigt es eine rasante Folge von Tanzszenen in aller Herren Länder, mit Tänzern aller Hautfarben. Dann ist die Musik zuende, aber noch nicht das Video. Denn es folgt die berüchtigte ‚Panther-Sequenz’. Das ist eine vierminütige Tanznummer ohne Musik, Michael steppt wie ein wildes Tier - und demoliert ein Auto, zerschlägt Fensterscheiben und treibt das Crotch Grabbing (buchstäblich) auf die Spitze. Ein Riesenskandal! Am nächsten Tag ist der Teufel los. Die Jugendschützer der ganzen Welt sind entfesselt, bis in unsere Tagesschau tönt das Echo. Sogleich zieht Michael schuldbewusst die Panther-Sequenz zurück und lässt verlauten: „Ich wollte immer ein gutes Vorbild sein. Ich bedaure zutiefst, wenn der Schlussteil von Black Or White bei Kindern oder ihren Eltern Leid und Schmerz verursacht hat.“ Freilich, John Landis erinnert sich: „Er hatte den Schluss ursprünglich sexuell noch eindeutiger gewünscht.“ Jedenfalls gab es nun keinen mehr auf dem Erdenrund, der nicht wusste, dass Michael Jackson ein neues Album herausbrachte! Wenn es ein Trick war, dann doch kein billiger. Denn bis heute darf die Panther-Sequenz nicht im Fernsehen gezeigt werden, schon gar nicht bei MTV. Und dabei zählt sie künstlerisch zu Michaels drei, vier reifsten Leistungen. (Freilich, auf Kassette können Sie's kaufen...)

Das Album Dangerous kommt eine Woche später auf die Ladentische. Der Verriss in der Musikpresse ist einhellig. Nur Rolling Stone tanzt wieder aus der Reihe. Sie geben ihm viereinhalb Sterne und plazieren es damit zwischen „exzellent“ und „ein Klassiker“. Und sie haben Recht. Von den vierzehn Stücken sind dreizehn ein Meisterwerk, jedes auf seine Art. (Nur Gone Too Soon fällt ab. Trauer eignet sich nicht zur Veröffentlichung.) Aber eines ist wahr: „Neu“ ist diese Musik nicht. Es ist Jackson-Funk in seiner höchsten Vollendung. Eben ein Klassiker.

Quincy Jones war nicht mehr dabei. Michael ist diesmal sein eigener Produzent. „Das ist o.k., er kann's jetzt selber“, kommentiert Q. Die stärksten Stücke hat der Sänger selber geschrieben. Da sind die drei Rock-Nummern Black Or White, Who Is It und Give In To Me - die beiden letzten schwere, düstere Lieder vom Liebesleid. Zweimal gab Slash, der Guitarrist der Hardrock-Gruppe Guns N'Roses, ein Gastsolo. Beim Publikum umstritten, aber darum nicht minder beliebt, waren die Kinderhymne Heal The World und die Gospelballade Will You Be There. „Kitsch!“ Und gewiss ist der Text der Kinderhymne so sentimental, dass er nicht übersetzbar ist. Aber dementiert wird er von der heiteren Melodie, die man, wenn sie in rustikalem D-Dur stünde statt im prächtigen A-Dur, genausogut zur Weinlese singen kännte. Allerdings lädt der tiefscharze Rhythmus eher zum Tanzen ein als zur Arbeit...

Und in Will You Be There, das als Filmmusik zu Free Willy entstanden ist, findet sich folgender Stoßseufzer aller unverstandenen Dreizehnjährigen:

Everyone's getting control of me
Seems that the world's got a role for me
I'm so confused, will you show to me
You'll be there for me
And care enough to bear me?

Dann zum Abschluss das unvermeidliche Billie-Jean- und Dirty-Diana-Motiv, die gefährliche, vereinnahmende Frau: der Titelsong Dangerous.

Take away my money
Throw away my time
You can call me honey
But you're
No damn good for m !

Dangerous verkaufte sich besser als befürchtet. Doch schon mit Bad hatte sich abgezeichnet: Die Dynamik lag inzwischen eher in Übersee als daheim. Zuhaus hatte er mit Thriller sein Potential weitgehend ausgeschöpft, da war nichts mehr auszubauen. In Europa, Asien und Lateinamerika dagegen war er immer noch „neu“. Nur kommt er dort als der fix und fertige Jacko an. Der Kleine Michael wird immer erst im Nachhinein entdeckt. Die Überraschung verstärkt dann freilich den Effekt.

Wenn sich Michael Jackson entschloss, noch einmal auf Tour zu gehen, dann steckte Strategie dahinter. Es ging darum, sein Reich rund um den Erdball auszuweiten. Bislang war Amerika sein Stand-, der Rest der Welt sein Spielbein. Jetzt galt es, überall ein Standbein auf den Boden zu bringen. Am 3. Februar 1992 kündigt er in New York seine neue Welttournee an. Europa und Japan - die USA sind gar nicht vorgesehen. Aber mit Rumänien zum erstenmal ein Land des ehemaligen Ostblocks. Pepsi sponsert. Und er zieht einen Joker aus dem Ärmel: Alle Einkünfte aus der Tournee würden seiner neuen Kinder- und Umweltstiftung Heal The World Foundation zugute kommen. „Fünfundsiebzig Millionen Dollar“ waren das Ziel!

Doch wie schon die Vorbereitung des Albums, steht auch die Vorbereitung der Live-Show im Zeichen höchster Nervosität. Michael Jackson lässt sich von den Star-Illusionisten Siegfried und Roy und David Copperfield eine Reihe Special effects eigens entwerfen, aber immer wieder wirft er das Programm über den Haufen und beginnt von vorn. Noch eine Woche vor dem Tournee-Start in München habe er seinen Mittänzern gesagt: „Vergesst alles, was wir geprobt haben“, und habe die Choreographie völlig umgekrempelt...

Zuvor noch, als PR-Feldzug, eine Reise „zurück nach Afrika“ ins Land der Väter. Sein ständiger Begleiter ist der zehnjährige Brett Barnes (wir werden ihm noch begegnen). Ein Triumphzug, wie geplant. Bei seiner Ankunft in Gabun wurde er von mehr Menschen begrüßt als vor ihm Nelson Mandela, und in der Elfenbeinküste mobilisierte er größere Massen als vor ihm der Papst. Dort wurde er gar vom Stamme der Sanwis zu ihrem „König“ gekrönt. Und dies in Ländern, wo es in den meisten Dörfern nicht einmal ein Transistorradio gibt... Und doch wurde das PR-Unternehmen von der Presse unterm Strich eher als ein „Fiasko“ verbucht - und vorzeitig abgebrochen. Ein unscheinbares Ereignis am Rande hatte gezeigt, wie begründet Michaels Unruhe war. - Er mag nicht, dass ihm die Leute ins Gesichts starren, und wenn er seinen Mundschutz nicht trägt, sieht man ihn oft mit der Hand übers Gesicht fahren. Und wenn er wieder verlegen ist, zupft er sich wohl schonmal an der Nase. So auch in Afrika. Das hat einer fotografiert, eine Zeitung hat es gebracht. Darunter schrieb sie: Er hält sich die Nase zu, weil die Afrikaner schlecht riechen. Geschmacklos, sicher. Aber vor allem politisch bösartig. Jetzt wurde es ernst. Denn verstehen sollte man es so: ein Neger, der ein Weißer sein will; und wenn er seine Stammesbrüder trifft, hält er sich die Nase zu, weil sie stinken... Das ist der kleine, feine Rassismus, wie er in Amerika alltäglich ist; bei allen Rassen. Die Antihype hatte eine neue Dimension bekommen. Da zeigte sich richtiger Hass - auf einen Entertainer!

Vor einem Vierteljahrhundert war der kleine Michael aufgebrochen im Zeichen von Crossover, als King of Pop wollte er dann die ganze Menschheit durch Musik vereinen, und jetzt polarisierte er wie kein Künstler vor ihm. Wer nicht direkt für ihn war, war gegen ihn. Kaum einer, der, wenn er seinen Namen hörte oder gar sein Gesicht sah – „schon dieses Gesicht!“ -, nicht gleich pro oder contra reagierte. Denn längst stand er schon für viel mehr als bloß eine bestimmte Sorte Unterhaltung. Er war zum persönlichen Inbegriff der modernen Massenkultur geworden. Alle zeigten mit dem Finger auf ihn. Punker und Pädagogen, Politiker und Redakteure, Prälaten und schöne Seelen - sie alle sagten, wenn sie ihrem Unbehagen an der Kultur einen Namen geben wollten, unfehlbar: Michael Jackson. Da lag was in der Luft. Da braute sich was zusammen.

Und dass es dann gerade dieser „Fall“ wurde, nimmt auch nicht wunder. Einem bekennenden Kinderfreund, der so viele Neider hat, musste früher oder später sowas angehängt werden.

Es wundert vielmehr, dass es nicht schon früher geschah. Seit einem guten Jahrzehnt hatte der Mann, der Tag und Nacht von der Sensationspresse ausgespäht wird wie kein anderer, dutzende und hunderte von Kindern bei sich zu Gast gehabt, viele mit ihren Eltern, und oft hatten sie bei ihm im Bett geschlafen. Das war kein Geheimnis, jedenfalls nicht unter denen, die einen Blick hinter die Mauern werfen konnten; aber das waren immerhin ein paar Dutzend. Und jedermann in Hollywood weiß, dass einschlägige Agenturen die Hausangestellten der Stars bezahlen, um sich mit Exklusivklatsch zu versorgen. Mark Quindoy, der Hausverwalter auf Neverland, und seine Frau Faye standen auf der Pay list der Londoner News of the World und The Sun (beide gehören Rupert Murdoch). Er hätte offene Ohren gefunden. Doch Allan Hall, Murdochs Agent in Los Angeles, sagt später: „Ich habe in all den Jahren nichts, aber auch gar nichts Negatives über diesen Burschen [er meint Jackson] gehört.“ (Wir werden die Quindoys wiedertreffen.) Kinder gingen in Neverland aus und ein. Aber damals hat sich keiner was dabei gedacht. Nichtmal im skandalsüchtigen Hollywood. (Im nachhinein wollen freilich manche „schon immer etwas geahnt“ haben. Aber gesagt haben sie es erst, als viel Geld geboten wurde.)

Es war eben nicht immer selbstverständlich, dass Liebe im Grunde doch nichts anderes ist als Sex. Das ist es in Wahrheit noch heute nicht. Wir alle wissen es aus eigenem Erleben besser. Und dennoch beherrscht die trübe Lehre, wonach sich Liebe stets auf „machen“ reimt, weithin das öffentliche Feld. Wie kommt das? Ganz einfach. Es zahlt sich aus. Was in den sechziger Jahren (von vorn) als „die sexuelle Revolution“ daherkam, erweist sich heute (von hinten) als die Expansion der Pornoindustrie. Und mit ihr expandierte die Bigotterie. Sie sind wie kommunizierende Röhren. Denn auch von der Entrüstung lässt sich's leben, solange die Obszönität gedeiht.

Unter größter Spannung begann am 27. September 1992 in München die Dangerous-Welttournee. Die Wahl des Ortes war nicht zufällig. Deutschland ist seit dem Fall des Eisernen Vorhangs zu einem Schlüssel des europäischen Popmarkts geworden. Erstmals war es sogar Trendsetter auf den Tanzböden der Welt! (Nichts, worauf wir stolz sein können; denn von Techno ist die Rede.) Auch MTV sendet inzwischen auf Deutsch. Hier war für Michael Jackson noch ein großes Potential zu heben. In Deutschland gibt er zehn Konzerte, dreiunddreißig in ganz Europa. Allein in London füllte er fünfmal das Wembley-Stadion - 360 000 Zuschauer! Das Konzert in Bukarest (vor 72 000 Teilnehmern) wird vollständig aufgezeichnet und später rund um die Erde im Fernsehen übertragen. Im Dezember folgen schließlich acht Konzerte in Tokio, jedesmal vor 45 000 Zuschauern. Brett Barnes war immer dabei.

Anfang des Jahres ist er zurück in USA. Er tritt bei der Feier zur Amtseinführung von Bill Clinton auf. Es folgt ein Spektakel eigner Art: In der Halbzeitpause des Super-Bowl-Endspiels der American Football League am 31. Januar in Pasadena singt Michael Jackson gemeinsam mit zehntausenden Kindern Heal The Worl - und 133 Millionen schauen zu ! Aber der eigentliche PR-Stunt kommt noch. Am 10. Februar empfängt er zuhaus auf Neverland Amerikas größten Fernsehstar, die Talkmeisterin Oprah Winfrey. Michael Jackson gibt ein Live-Interview! Vor rund 90 Millionen Zuschauern redet der schweigsame Star neunzig Minuten lang über Gott und die Welt. Es ist das Medienereignis des Jahres. Wenn man auch - außer über Vitiligo - nicht viel Neues erfährt. Doch findet er unerwartet klare Worte über seine Kindheit und seinen Vater. Nur als Oprah wissen will, was alle beschäftigt: nämlich ob er noch jungfräulich sei - da zuckt er zurück. „Ich bin ein Gentleman!“ Vielleicht sei er altmodisch, aber über sowas redet er nicht...
In den Tagen drauf schießt Dangerous in den Billboard Charts wieder nach oben.

Und am 9. Mai finden wir Michael Jackson bei den World Music Awards in Monte Carlo. Er erhält drei Auszeichnungen, unter anderm als erfolgreichster Plattenstar der Epoche. In seiner Begleitung : der dreizehnjährige Jordy Chandler mit Mutter und Schwester.
Die Fortsetzung der Dangerous-Tournee durch Asien, Australien und Südamerika war für den Herbst des Jahres vorgesehen - pünktlich zu Michael Jacksons fünfunddreiáigstem Geburtstag am 29. August. Aber vorher passierte was.

Am 24. August 1993 erfuhr der deutsche Fernsehzuschauer aus der Tagesschau, Michael Jackson werde des sexuellen Kindesmissbrauchs bezichtigt. In den folgenden Tagen überbot sich die Boulevardpresse, und nicht nur sie, rund um den Globus mit immer neuen Enthüllungen. Wie Ritter Blaubart habe der falsche Kinderfreund hunderte von Kleinen nach Neverland auf seinen Rummelplatz gelockt, um sich dort über sie herzumachen. Sodom und Gomorrha!

Als sich der erste Pulverdampf gelegt hatte, erfuhr man, worum es überhaupt ging: Jordan Chandler hatte Jackson seit einem Jahr in der Öffentlichkeit begleitet, wie viele andere Jungen vor ihm. Und regelmäßig hatte mal er auf Neverland übernachtet, oft in Begleitung von Mutter und Schwester; mal Jackson im Haus von Jordans Stiefvater, dem Autoverleiher Dave Schwartz. Es ging so familiär zu, dass der National Enquirer damals eine Geschichte über „Michael Jacksons heimliche Familie: eine Millionärsgattin und ihre beiden Kinder“ brachte - und dazu ein Foto mit Michael, Jordy, June Schwartz-Chandler und der fünfjährigen Lily. Jordans leiblicher Vater, der nicht sehr erfolgreiche Zahnarzt Evan Chandler, lag aber seit Jahren mit der geschiedenen Mutter im Streit um die Unterhaltszahlungen. So wurde Jordans Freundschaft mit Michael Jackson zur Waffe im Nach-Scheidungskrieg. Das Sorgerecht wurde zum Druckmittel. Konnte man einer Mutter das Sorgerecht lassen, die ihr Kind nicht vor falschen Freunden schützt? Dr. Chandler hat seinen Sohn erst zu einem Therapeuten und dann zur Polizei geschickt.

Wir sind in Hollywood. Geld spielte eine Rolle, viel Geld. Dr. Chandler ist nebenbei auch Drehbuchautor. Von ihm stammt das Buch zu Mel Brooks' Robin-Hood-Parodie Helden in Strumpfhosen (und die Idee dazu soll sein Sohn gehabt haben). Sofort nach Bekanntwerden der Anschuldigungen erklärten Jacksons Anwälte, Dr. Chandler habe von Jackson 20 Mio. $ für ein Filmprojekt haben wollen. Es handle sich um einen gewöhnlichen Erpressungsversuch.

Jedenfalls war die Polizei von Los Angeles am 21. August, dem Tag vor seinem Abflug nach Asien, mit großem Aufgebot in Neverland eingefallen, hatte sämtliche Türen aufgebrochen und alles auf den Kopf gestellt. Drei Tage später wusste es die ganze Welt. Der Zeitpunkt hätte nicht besser gewählt sein können. Am selben Tag fand in Bangkok das Eröffnungskonzert zum zweiten Abschnitt der Dangerous-Welttournee statt. Und sein Geburtstag stand bevor - die Medien waren voll davon. Es kam alles wie bestellt.

Tagelang vernahm die Polizei alle Jungen, die je mit Michael zusammen gewesen waren, voran Macauley Culkin, und wie durch ein Wunder waren die Medien immer bestens informiert. Selbst das Protokoll von Jordan Chandlers erster Polizeivernehmung - eines der geheimsten Dokumente im Staate Kalifornien - hatte umgehend den Weg in die Redaktionen gefunden, für nur $ 750 pro Kopie! Aber es fand sich keiner sonst, der etwas Belastendes zu sagen hatte. Brett Barnes und der gleichaltrige Wade Robson, beide Dauergäste auf Neverland und bei der Haussuchung zugegen, traten tapfer vor die Fernsehkameras, um sich in ungeschminktem Kinderzorn vor ihren Freund zu stellen. „Ob er küßt? Yea. So als ob man seine Mutter küßt“, sagt Brett. Hat er mit ihm in einem Bett gelegen? „Yessir.“ Und wie war das? „Ganz einfach. Er hat auf der einen Seite geschlafen, ich auf der andern. Es ist ein großes Bett, wissen Sie.“ Und er fügt hinzu: „Es ist als würde ich ihn mein ganzes Leben lang kennen, und mein voriges Leben auch.“

Die Ritter-Blaubart-Version hat nicht lange gehalten. Es blieb bei den Anschuldigungen des dreizehnjährigen Jordan. Im Laufe eines halben Jahres sei es insgesamt sechsmal zu sexuellen Handlungen gekommen. Mehr als nur Doktorspiele. Nicht viel mehr zwar, aber immerhin. Jedenfalls genug, um jemand öffentlich zu ruinieren. Und um ihn ins Gefängnis zu bringen.

Der „Fall Jackson“ besteht aus zwei ungleichen Teilen. Da war einerseits eine staatsanwaltliche Untersuchung. Und da war andererseits eine Medienkampagne, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat, und die war das eigentliche Ereignis; das andere gab nur den Anlass. Die englische Fernsehanstalt BBC hat über die Medienorgie eine anderthalbstündige Dokumentation erstellt - The Hunt for Michael Jackson, „Die Jagd auf Michael Jackson“. Und die wurde prompt ein Opfer desselben Prozesses, den sie dokumentiert: In Deutschland wurde sie, um die Hälfte gekürzt, unter dem ‚politisch korrigierten’ Titel „Der Skandal um Michael Jackson“ in den Dritten Programmen entsorgt...

Michaels einzige Reaktion auf den eben ausbrechenden Skandal war - die von seinem Anwalt Howard Weitzmann verlesen lapidare Erklärung, er habe sich „nichts zuschulden kommen lassen“. Doch das zweite in Bangkok vorgesehen Konzert musste um einen Tag - und dann noch einen Tag verschoben werden. Mit den Anschuldigungen hatte es angeblich nichts zu tun. Michael litt lediglich unter „Dehydration“, übermäßigem Flüssigkeitsverlust wegen der tropischen Hitze in Bangkok. Seine Freundin Elizabeth Taylor und Schwester Janet waren sofort aufgebrochen, um ihn in Singapur zu treffen, wo er an seinem Geburtstag ein Konzert gab. Auch hier musste Tags drauf das zweite Konzert abgesagt werden. Er war unmittelbar vor dem Auftritt in seiner Garderobe zusammengebrochen. Die Fans verließen bedrückt und gereizt das ausverkaufte Stadion. Nach einem Gehirn-Scanning im Mount Victoria Hospital sprachen die Ärzte vom Ausbruch einer lange verschleppten Migräne. Aber die Fans glaubten sowenig wie die Presse, dass die Ereignisse in Los Angeles gar keine Rolle spielten. Seit Jahren hatte man über die angegriffene Gesundheit, das seelische Gleichgewicht des hypersensiblen Stars orakelt. Dass er seine Verteidigung nun ganz und gar anderen überließ, ohne selber in Erscheinung zu treten - nichtmal per Video -, das gab zu Besorgnis Anlass.

Doch abgesagt wurde die Tournee nicht. Und als er dann schließlich wieder auf die Bühne trat, fanden ihn das Publikum und selbst die Presseleute fast wilder denn je, wie im Trotz: „Er tanzt um sein Leben!“ Und man will sogar gesehen haben, dass er die Journalisten nicht, wie sonst, mit zwei gestreckten Fingern, sondern nur mit einem gegrüßt habe... Im Verlauf der Tour kam es dann aber immer öfter vor, dass Auftritte verschoben oder abgesagt werden mussten. Als er am 12. September in Moskau zu seinem ersten Konzert in Russland gelandet war, schleppte er sich mühsam die Gangway herab, und es sah aus, als wolle er stürzen. Niemand glaubte seinen Ärzten und Propagandisten, dass er ungebrochen und in kämpferischer Stimmung sei, und schon beschworen die Medien ungeniert seinen bevorstehenden Selbstmord.

Am unruhigsten waren natürlich die Fans. Wieso sagte er denn nichts? Warum überließ er kampflos der Sudelpresse das Feld? Und irgendwie kam das Gefühl auf, nun sei das Phänomen Michael Jackson zu seiner Vollendung gelangt: So undurchsichtig wie jetzt war er noch nie.

Es passte ja auch alles viel zu gut. Wer nicht ein einziges Lied von Michael Jackson kannte; wer nicht wusste, wie er auf seinem Set MTV empfangen kann; wer das Wort Funk noch nie gehört hatte - sie hatten es jetzt alle erfahren: Michael Jackson war wieder auf Tour! Passend zum Auftakt war Free Willy in die Kinos der Welt gelangt und war Will You Be There als Single herausgekommen:

In my darkest hour
In my deepest despair
Will you still care
Will you be there?
In my trials, in my tribulations
Through your doubts and frustrations
In my violence, in my turbulence
In my fear and my confessions
In my anguish and my pain...

Und war er nicht The King Of Hype? Wenn nun das Ganze (man wagt es kaum zu denken) ein gewaltiger Stunt war, wie ihn nur der größte Star aller Zeiten ausdenken kann?

Ganz unmöglich, na klar. Aber nicht so unmöglich, dass man nicht doch einen Moment überlegen müsste.

Und wirklich wurde die Tournee ein voller Erfolg, die Stimmung war aufgepeitscht, die Konzerte ausverkauft (mit Ausnahme von Moskau: Dort kostete der Platz ein durchschnittliches Monatseinkommen, und es hatte seit drei Tagen nicht aufgehört zu regnen !) Der Plattenverkauf boomte, nichtmal zuhaus in USA verbuchte Billboard Verkaufseinbußen oder einen Rückgang bei den Sendern. Sony verkündete stolz: Von Dangerous waren inzwischen 20 Millionen verkauft.

Während die Tour weitergeht, tobt in Kalifornien der Krieg der Anwälte. Nicht vor Gericht, sondern vor der Presse. Der „Fall“ scheint von den Medien entschieden zu werden statt von Geschworenen. Dutzende, hunderte von Reportern waren aus aller Herren Länder nach Los Angeles geströmt, jeder wollte ein Stück vom Kuchen. Es war die Sternstunde der Yellow Press. So ein dickes Ding hatte es noch nicht gegeben! Die Erregung war allgemein. Doch den Krieg der Pressekonferenzen schienen die Jackson-Anwälte zu gewinnen. Dr. Chandler geriet ins Zwielicht und verlor an Boden. Er musste wieder in die Offensive. Am 14. September machte er einen Schachzug: Er reichte eine Zivilklage auf Schmerzensgeld ein. In Europa hinge ein Zivilverfahren von einem vorherigen Schuldspruch durch ein Strafgericht ab. Nicht so in USA (wie der Fall O. J. Simpson gezeigt hat). Egal, was die staatsanwaltliche Untersuchung erbrachte - die Eröffnung des Zivilverfahrens lag in Dr. Chandlers Entscheidung. Das brachte Jackson in eine Zwickmühle. Denn entweder die Sache kam vor eine Jury und würde monatelang ausgewalzt; und hätte man ihn tausendmal freigesprochen: Danach war seine Karriere zu Ende. Oder er ließ sich auf einen außergerichtlichen (d. h. finanziellen) Vergleich ein. Das sähe aus wie ein Schuldgeständnis: „Er kauft sich frei!“ Eine Wahl zwischen Pest und Cholera. Man kann nur verlieren.

Jetzt ging der Nervenkrieg erst richtig los, und wieder waren die Medien am Zuge. Die Yellow Press der fünf Kontinente nahm die Detektivarbeit selber in die Hand, die Staatsanwaltschaft mußte nur noch zugreifen. Deutschlands größte Tageszeitung, deren Namen man nicht nennt, schwankte tagelang zwischen schuldig und nicht schuldig. Es war ihr aber auch ganz wurscht. Die Frage war doch nur: Was lässt sich länger ausschlachten? Tja, good news is no news - also schuldig.

Nie wurde eine Untersuchung gründlicher geführt. Jeder Kieselstein wurde umgedreht, jede Kleinigkeit geprüft, ob sie sich wohl verwerten ließ. Reporter entdeckten zum Beispiel die Aufzeichnung der Überwachungskamera in einem Spielzeugladen. Michael Jackson war mit einem Jungen da, und der hatte sich in ein Luxusstück vergafft. Als Michael ihn fortschieben will, schubst der ihn unsanft beiseite. Kommentiert der Psychologe, der das Band auswerten sollte: „Man sieht ein Verhältnis, im dem das Kind wirkliche Macht hat.“ Verdächtig oder unverdächtig? Je nach Geschmack. Jedenfalls druckbar.

Und wer immer was erzählen mochte, wurde erhört. Nur interessant musste es sein. Auch Michaels ältere Schwester LaToya drängte es vor die Fernsehkameras. Seit ihre Popkarriere gescheitet ist, lebt sie davon. Zuerst beteuerte sie erwartungsgemäß die völlige Unschuld ihres kleinen Bruders. Doch ein zweitesmal wollte das keiner hören. Da wechselte sie die Seiten - und war nun öfter auf der Mattscheibe.

Um phantasielosen Zeugen die Zunge zu lockern, bot die Presse einfach Geld - Scheckbuchjournalismus. Da war etwa das ehemalige Hausmädchen, das in Michaels Schlafzimmer ein Foto eines „völlig nackten“ Jungen gesehen haben wollte - der „lediglich um die Körpermitte von einem Badetuch bedeckt“ war. Sündhaft wie der Quellekatalog! Da war jetzt auch LaToya. Die hätte mit eigenen Augen die Schecks gesehen, mit denen Michael jahrelang das Schweigen entrüsteter Eltern erkauft hat. Wahrscheinlich lagen sie in Hayvenhurst auf dem Küchentisch rum, aber so genau wollte sich die Schwester dann doch nicht erinnern. Und schließlich der erwähnte frühere Hausverwalter Quindoy. Der erzählte der Presse im heimischen Manila, wie er einmal Mr. Jacksons Hand am Höschen eines Jungen gesehen habe. Da wollte er $ 100 000. Zum Schluss verlangte er eine halbe Million, aber dafür war die Hand jetzt auch schon in dem Höschen. (Bekommen hat er nichts.) Man möchte meinen, wer solche Ankläger hat, kann eigentlich nicht schuldig sein. Die Staatsanwälte zogen jedenfalls vor, auf diese Zeugen zu verzichten.

Los Angeles hat einen ehrgeizigen Bezirksstaatsanwalt: Gil Garcetti. Der wollte seinen Prominentenprozess. Wie jeder Krimifreund weiß: Staatsanwaltschaft ist in den USA ein Wahlamt, und unter Umständen Sprungbrett für eine politische Karriere. Und im District Santa Barbara wird dieses Amt von Tom Sneddon versehen, der ein großer Eiferer ist. Beide haben sie rund vierhundert Zeugen vernommen, darunter dreißig Jungen, die mit Michael Jackson zusammengewesen waren. Als sie nichts zu erzählen wussten, hat man ihnen auf die Sprünge geholfen. Das Los Angeles Police Department ist seit O. J. Simpson für seine unorthodoxen Beweiserhebungsmethoden berühmt. Sie versuchten's mit Bluff. Michaels Anwalt Bert Fields alarmierte die Öffentlichkeit, als das L.A.P.D. einigen Jungen weismachen wollte, auf Neverland seien Nacktfotos von ihnen gefunden worden...

Blieb Jordy Chandler. Mit dem stand und fiel der „Fall“. Seine Aussagen gingen sehr ins einzelne. Doch das allein bewies nicht ihre Wahrhaftigkeit. Bis auf einen Punkt: Er hatte Angaben über Farbveränderungen an Jacksons Haut gemacht, die er nur kennen konnte, sofern die anderen Aussagen auch zutrafen. Eine Leibesvisitation und - der Fall war entschieden.

Aber Michael Jackson war immer noch unterwegs. Israel, Türkei, Teneriffa, Lateinamerika - überall volle Stadien. Ein Konzert in Südafrika war abgesagt worden - mit einer politischen Begründung. Und dann wurde der Vorverkauf in Australien gestoppt. Terminschwierigkeiten, hieß es, aber die Gerüchte um einen Abbruch der Tour wurden lauter. Und noch immer keine Stellungnahme von Michael Jackson ! Dann im September ein Auftritt in der Schweiz, der als eine solche gelten konnte und seine Fans entzückt hat: Völlig unerwartet wurde er im Schweizer Gstaad gesichtet, wo Liz Taylor ein Chalet hat, in dem er eine Ruhepause einlegte. Und wen hat er in seiner Begleitung? Zwei kleine Jungens. „Entweder ist seine Gier unersättlich, oder er hat wirklich ein reines Gewissen“, staunte ein Berliner Gossenblatt. Es waren zwei längst bekannte Gesichter, die neun- und elfjhrigen Brüder Eddie und Frank, Söhne des Hoteliers Dominic Cascio, mit dem Michael seit langem befreundet ist. Sie sind auch dabei, als er einen Monat später in Buenos Aires den wartenden Reportern eine seltene Probe seines bösen Humors gibt: Zwischen Gardinen hervor winkt er ihnen mit einem Heft des Magazins Child. Was liest man auf dem Titelblatt? „Sechsundvierzig lustige Spiele mit Deinem Baby“.

Wieder hatten Konzerte verschoben werden müssen. Und zwischen den einzelnen Nummern braucht Michael Jackson immer längere Pausen, lässt sich mit Sauerstoff behandeln. Zwischen seinen Konzerten in Mexiko-Stadt - insgesamt gut eine halbe Million Zuschauer - muss er sich einen Backenzahn ziehen lassen und die Nacht im ABC Hospital verbringen. Das fünfte Konzert am 11. November wird das letzte sein. Die lange befürchtete Krise ist da. Liz Taylor eilt nach Mexiko. Am nächsten Tag ist Michael Jackson spurlos verschwunden.

Einige Reporter konnten ihre sportliche Hochachtung für diesen Stunt nicht verhehlen. Von Presseleuten umzingelt wie keiner zuvor, und zwar von den bösesten ihrer Gattung, ist er ihnen doch entwischt. Wochenlang blieb er unauffindbar. Das einzige Lebenszeichen: eine Tonbandbotschaft. Mit zittriger Stimme gibt er den Abbruch der Tournee bekannt. Es gibt eine Überraschung. Ausgerechnet Michael Jackson bekennt sich als Drogensüchtiger! Sieben Monate zuvor seien ihm nach einer neuen Operation der Kopfhaut (immer noch wegen des Pepsi-Unfalls) Schmerzmittel verschrieben worden. Anfangs habe er sie sparsam genommen. Doch seit Monaten werde ihm nun übel mitgespielt. „Ich wurde gedemütigt, bedrängt und gekränkt, ich fühlte großen Schmerz in meinem Herzen. Der Druck dieser falschen Anschuldigungen machte mir solchen Kummer, dass ich - bei der unglaublichen Energie, die mich meine Auftritte kosten - physisch und emotional erschöpft war. Ich wurde zusehends von den Schmerzmitteln abhängig, um die Tage der Tour durchzustehen. Meine Freunde und Ärzte raten mir, mich unverzüglich in fachliche Behandlung zu begeben, um eine Abhängigkeit zu beheben, die zur Sucht geworden ist.“ Später hieß es, er habe zum Schluss täglich eine halbe Apotheke verschluckt; vor allem ein Mittel namens Percodan habe er wie Bonbons in sich reingestopft. Die Krise und der Zusammenbruch in Mexiko sei die Folge einer Überdosis gewesen.

Inzwischen wissen wir, dass er durch die Vermittlung des Sängers Elton John, den Liz Taylor eingeschaltet hatte, zu Beauchamps Colclough an der Londoner Charter Nightingale Klinik in Behandlung kam. Der Mann ist eine Legende. Er hat selbst alles durchgemacht, was man mit Drogen und Alkohol erleben kann, und gilt als Wunderheiler. Immerhin hat er Elton John clean gemacht. Und er braucht immer nur ein paar Wochen. Allerdings sind seine therapeutischen Methoden radikal.

Die Staatsanwälte, die Chandler-Partei und der größere Teil der Presse heulten: Er ist geflohen! Er entzieht sich der Justiz! Er kommt nie wieder nach Amerika! Und auf der Jackson-Seite gärte es. Katherine Jackson fand schon lange, die Anwälte ihres Sohnes hätten die ganze Sache verfahren. Nun fand Liz Taylor das auch. Vor allem die große Rolle, die dem zwielichtigen Detektiv Tony Pellicano im Verteidigungs-Team eingeräumt worden war, machte ihnen Sorgen. Pellicanos Intimfeind Ernie Rizzo, der auf der Chandler-Seite gewühlt hat, sagt über seinen Kollegen: „Wenn's da wirklich eine Erpressung gab, dann leg ich meine Hand ins Feuer: Der hat sich seine Scheibe abgeschnitten!“

Am 12. Dezember, genau einen Monat nach seinem Verschwinden, ist Michael Jackson wieder in Amerika - ebenso unverhofft. Pellicano geht, mit ihm Bert Fields, der Sprecher der Anwaltsgruppe. Und da begegnen wir John Branca wieder! Er nimmt die Dinge in die Hand und holt den populären schwarzen Anwalt Johnnie Cochran ins Team.

Am 22. Dezember, den Kindern als Weihnachtsgeschenk, äußert sich Michael Jackson erstmals öffentlich zu seinem „Fall“! Vier landesweiten Sendern war eine unzensierte Direktübertragung einer Live-Ansprache aus Neverland angeboten worden. Aber da fiel ihnen ihr Berufsethos ein. Eine persönliche Meinungsäußerung, die „nicht zuvor von Journalisten bearbeitet“ wurde? Nie! Wo führt das hin! Einzig CNN sendet Michaels Rede. Der Sender gehört Ted Turner, und der ist mit Jane Fonda verheiratet. Michael Jackson sieht schrecklich aus. Er erwähnt seine Entziehungskur, spricht dann von den Anschuldigungen: „Diese Behauptungen sind völlig falsch.“ Aber er wird nicht im einzelnen darauf eingehen: „Meine Anwälte sagen mir, dies sei nicht der geeignete Ort dafür.“ Dann greift er die „unglaublichen, fürchterlichen Massenmedien“ an. Das Publikum soll mit seinem Urteil warten, bis es die ganzen Wahrheit gehört hat: „Behandelt mich nicht wie einen Verbrecher, denn ich bin unschuldig.“ Und dann erfahren wir, dass Anfang der Woche eine Leibesvisitation stattgefunden hatte. „Sie zeigten mir einen Gerichtsbeschluss, der ihnen erlaubte, meinen Körper zu besichtigen und zu fotografieren, sowohl meinen Penis, mein Gesäß, meinen Unterleib, meine Schenkel als auch jedes andere Körperteil, das sie sehen wollten. Sie sollen nach Entfärbungen, Flecken oder andern Anzeichen einer Hautkrankheit namens Vitiligo gesucht haben, von der ich früher gesprochen habe.“ Ihm kommen vor Wut die Tränen: „Es war die tiefste Erniedrigung meines Lebens! Es war ein Albtraum, ein grässlicher Albtraum.“ Und er schließt mit einer erneuten Beteuerung seiner vollkommenen Unschuld. Die Rede hat vier Minuten gedauert. Es war der Auftritt seines Lebens. Blitzumfragen am nächsten Tag zeigten: Dreiviertel der Zuschauer glaubten ihm. Es waren weniger seine Worte, die sie überzeugten, als sein Vortrag. Man nimmt ihm die Empörung ab, man fühlt ihm die Demütigung nach. Zwar schrieben dieselben Blätter, die ihm anlässlich von Moonwalker jegliches Talent abgesprochen hatten: er sei eben ein guter Schauspieler. Doch die allgemeine Stimmung war umgekippt.

Umso größer die Ernüchterung, als am 25. Januar 1994 die Anwälte der Chandler- und der Jackson-Partei gemeinsam vor die Presse traten: Jackson zahlte eine nicht näher bezeichnete Geldsumme, und die Chandler-Seite erhob von Stund an keinerlei Vorwürfe mehr. Die Fans waren vor Schreck erstarrt. „Na also!“ frohlockte die Presse. Er kaufte sich frei! Man muss nur reich sein, dann kann man sich alles erlauben... (Als ob sie eine Zeile über ihn verloren hätten, wäre er arm gewesen.) Es schien überhaupt nur eine Interpretation möglich: Der Deal war ein Schuldeingeständnis. Ebenso plausibel war zwar diese Deutung: Der Erpressungsversuch war, dank freundlicher Beihilfe der Weltpresse und der kalifornischen Justizbehörden, geglückt. Aber das fiel niemand ein. „Wieso zahlt er, wenn er nichts zu verbergen hat?“ Oder aber: Wie wahr ist eine Wahrheit, die man kaufen kann? Und welche dieser beiden Fragen man zu stellen vorzog, hing davon ab, welche Antwort man bereits gegeben hatte.

Anderthalb Jahre später, als er mit Ehefrau Lisa Marie gemeinsam ein Interview gibt, hat sich Michael Jackson selbst dazu geäußert. „Ich wollte die Sache zu einem Ende bringen. Meine Anwälte haben mir gesagt, das könne sich sieben Jahre lang hinziehen.“ Tatsächlich ist Kalifornien dafür berüchtigt, dass dort alle Gerichtsverfahren dreimal solange dauern wie anderswo in der Vereinigten Staaten; der Fall Simpson war auch dafür ein Beispiel. Das Simpson-Strafverfahren wurde ein Dreivierteljahr live im Fernsehen übertragen. Und als er freigesprochen war, fing der Zivilprozess überhaupt erst an. Nun wurde er verurteilt: viele Millionen... Aber Michael Jackson ist unvergleichlich reicher! Umso länger der Prozess. (Tatsächlich wurde der Simpson-Fall in der amerikanischen Öffentlichkeit als ein Ersatz für der ausgefallenen Jackson-Prozess angesehen. Es standen sich auch dieselben Protagonisten gegenüber - hier Gil Garcetti und das L.A.P.D., da Johnnie Cochran und - als Zeuge - Howard Weitzmann.)

Es war eine Wahl zwischen Pest und Cholera. Was wog schwerer: Der momentane schlechte Eindruck des Vergleichs, oder die Verheerungen eines monate- und jahrelangen Gerichtsverfahrens? Nicht einmal die Fans sind unkaputtbar. Manch eine, die jahrelang jeden Schnipsel ausgeschnitten hatte, wagte morgens nicht mehr, die Zeitung aufzuschlagen aus Furcht, es könne schon wieder was über ihn drinstehen. Und das schon nach vier Monaten !

Es war auch nicht mehr nur die Frage, ob er sich künftig in den Charts ein bisschen weiter oben oder ein bisschen weiter unten plazieren würde. Der Fall Jackson war längst zum Politikum geworden. Und zwar an der heikelsten Stelle - der Rassenfrage. Ob man ihn für schuldig oder unschuldig hielt, wurde nämlich wie später bei O. J, zu einer Sache der Hautfarbe. Seit der Reagan-Ära haben sich die Beziehungen zwischen den Volksgruppen in den USA wieder rapide verschlechtert. Auf allen Seiten herrscht Gereiztheit. So wie Michael Jackson von weißer Seite zusehends geschmäht wurde - schließlich ist der berühmteste Amerikaner ein Afrikaner -, so verteidigten ihn die Schwarzen. Louis Farrakhan, der Führer der Black Muslims, der selber des Rassismus bezichtigt wird und der seine schwarzen Jungs immer vor der cissy Michael gewarnt hatte, trat jetzt auf seine Seite und ließ ihn von seiner Leibgarde schützen ! In seinem ganzen Leben war Michael Jackson dem Rassismus nicht selber begegnet. Nicht in Gary. Da waren sie alle schwarz. Bei Motown auch. Und später war er der Megastar, den alle hofierten. Seit seinem „Fall“, sagt Quincy Jones, könne er mit Michael Jackson nun sogar über das Rassenproblem reden. Aber er selber durfte doch nicht zum Gegenstand des Rassenkampfs werden! Da hätte er auch gleich ganz aufhören können.

Die Umfragen zeigten, dass 55% der Zuschauer der Meinung waren, der Vergleich schade seiner Glaubwürdigkeit. Aber 69% fanden, er solle seine Karriere fortsetzen. Der Vergleich war das kleinere Übel.

Ein Beispiel für das, was uns sonst geblüht hätte, brachte noch ein Jahr später, im August 1995, das Klatschmagazin Dateline auf NBC. Eine gewisse Maureen Orth, Journalistin bei Vanity Fair, vom Scheitel zur Sohle jeder Zoll Entrüstung, hält triumphierend ein Dokument in die Kamera: Es ist das Originalprotokoll der staatsanwaltlichen Leibesvisitation! Kein Wort darüber, wie die Sauberfrau in seinen Besitz gelangt ist, und dass es sich nur um eine Straftat handeln kann, die wenigstens soviel Gefängnis wert ist wie das, was Michael Jackson vorgeworfen wird. Der hatte im Fernsehinterview gesagt, die Ergebnisse der Untersuchung hätten in keiner Weise mit den Angaben des Jungen übereingestimmt (didn't match at all). „Lüge!“ Die Kamera fährt groß auf den Text zu: A dark blotch, „einen dunkeln Fleck“ hat er an dem bewussten Körperteil. Jetzt wissen Sie's! Dateline und Frau Orth können sicher sein: Kaum einer von hundert Zuschauern weiß, dass der Junge von pink-white blotches, „weiß-rosa Flecken“ geredet hatte. Quasi ein Unschuldszeugnis für den Angeklagten - aber verheerend für den Star.

Und das war noch gar nichts. Der Herausgeber des National Enquirer erzählt der BBC, ihm seien sogar jene Polizeifotos angeboten worden - für 3 Millionen Dollar. „Was soll ich damit? Ich kann sie ja doch nicht drucken!“ Wenn es aber zum Prozeß gekommen wäre - wer weiß.

Die Staatsanwälte hatten keinen Zeugen mehr. Aber sie wollten nicht aufgeben. Sie suchten weiter. Aber sie fanden nichts, das sie verwerten konnten. Am 21. September 1994 - ein Jahr und einen Monat nach Beginn des Falls - verkündeten Gil Garcetti und Tom Sneddon, dass sie keine Anklage erhoben und die Ermittlungen aussetzten.

Die Medien haben ihr Fest gehabt: Das größte Spektakel der Geschichte. Und dass die Sache ungeklärt bleiben muss, passt ihnen gut. Michael Jackson bleibt ihnen erhalten, und sie haben ein Gerücht mehr im Repertoire. Außer Spesen nichts gewesen - aber davon reichlich.

Bleibt die Frage: Was bringt einen dreizehnjährigen Jungen dazu, seinen besten Freund so schwer zu belasten? Das amerikanische Magazin GQ hat in seiner Ausgabe vom Oktober '94 eine Antwort gefunden. Anlässlich einer Kieferbehandlung am 16. Juli '93 habe Dr. Chandler seinem Sohn von dem befreundeten Anästhesisten Mark Torbiner das Barbiturat Sodium Amytal injizieren lassen. Intravenös verabreicht, habe es eine hypnotische Wirkung. „Mit der Droge können Patienten falsche Erinnerungen eingepflanzt werden, allein durch die Art der Fragen.“ - Eine unglaubliche Geschichte, nicht wahr? Oder doch nicht. Denn dass er seinen Sohn die peinlichen Fragen gestellt habe, als er nach dem Zähneziehen aus der Narkose erwachte, wissen wir von Dr. Chandler selbst.

*

Ja, und wenn doch ?

Der Junge war dreizehn. Die Geschichte soll ein halbes Jahr gewährt haben. Von Zwang der einen oder andern Art war nicht die Rede. Und schließlich - unzufrieden kann er nicht gewesen sein, dafür waren seine Aussagen zu spezifisch.

Aber eigentlich ging es in der Kampagne gar nicht um das, was Michel Jackson getan hat oder nicht. Es ging um das, was er getan haben könnte. Es ging um seine Neigung. Liebt er Kinder oder liebt er Knaben? Und wenn letzteres - war er dann als Künstler erledigt? Verdiente er es länger, größter Star aller Zeiten zu sein? Ja durfte er überhaupt noch einen öffentlichen Platz in Anspruch nehmen?

Männer, denen das Herz nicht nach Frauen, sondern nach Knaben steht, hat es immer gegeben. Die öffentliche Meinung über die Knabenliebe war aber nach Ort und Zeit höchst verschieden. „Eine ganze Reihe Lokrer [Griechen] erhängte sich um spröder Knaben willen. Die griechische Knabenliebe ist noch wenig begriffen“, schrieb der deutsche Philosoph Hegel, der selbst eher ein Philister war. „Es liegt eine edle Verschmähung des Weibes darin und deutet darauf, dass ein Gott neu geboren werden sollte.“ Die kultisch-aristokratische Päderastie im klassischen Griechenland war sicher ein Extrem in der Kulturgeschichte. Aber ihre sexually correcte Ächtung in den Ländern des protestantischen Westens ist es auch. Zwar kann man sich die Kultur, in die man hineingeboren wird, genausowenig aussuchen wie Familie, Hautfarbe und Nation. Aber darum muss man ja noch nicht mit den Wölfen heulen. Nüchternheit kann auch hier nicht schaden.

Zumal in der Perhorreszierung der Knabenliebe in unsern Tagen nicht nur die Sorge um die Unversehrtheit der Kinder durchklingt. Das ist ein Gesetz der mediatischen Gesellschaft: Vieles, was unausgesprochen bleibt, wiegt schwerer als was gesagt wird.

Die Liebe ist eine Leidenschaft. Das heißt, sie kostet unsere Freiheit. Seine Freiheit verscherzen um kleiner Jungens willen? „Wie albern. Wie unmännlich!“ - Ja, aber das wäre ein Geschmacksurteil; kein moralisches. Und dass es eine hohe Achtung vor „dem Kinde“ ausdrückt, kann man nicht gerade sagen.

Mit andern Worten: In der Jagd auf Michael Jackson war viel Bigotterie. Sie war sogar ihre Triebkraft. Das Interesse, an der Spitze des Showgeschäfts Platz zu schaffen für die Konkurrenz, spielte nur nebenher.

Zugleich ist nämlich Sex mit Kindern ein Tabu, das tagaus tagein lärmend gebrochen wird. Er ist seit Jahren das, was uns am Kind am meisten bewegt. Das Kind ist interessant wie nie zuvor. Aber es verkehrt sich unter unserem Blick aus dem Inbegriff des Harmlosen in einen sexuellen Fetisch, in dessen Nähe nichts Unschuldiges mehr denkbar ist.

Kurz, in der Jagd auf Michael Jackson hat sich der Geist der Zeit entfaltet wie in einem Panoptikum.



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